Über das Leben im Garten der Zeit (Mt 24,37-44)

Der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet. (Mt 24,44)

In der Antike gab es zwei verschiedene fundamentale Zeitvorstellungen, die es im Grunde bis heute gibt: eine zyklische und eine lineare. Wie es schon die Namen verraten, dreht sich bei der zyklischen Zeitvorstellung alles im Kreis: Wir werden geboren, sterben, und werden wieder geboren; und das gilt auch für die Welt. Die Welt entsteht mit einem Urknall, entfaltet sich, und bricht am Ende in sich zusammen und wird vernichtet, damit sie wieder entstehen kann. Bei der linearen Zeitvorstellung gibt es ein Anfang und ein Ende des Ganzen und wir wissen nicht, was vorher war und was nachher wird, vielleicht nichts. Alles läuft aber nur in eine Richtung, nämlich auf das Ende zu. Im Christentum und in unserer Wahrnehmung der Zeit laufen nun beide Zeitvorstellungen zusammen: Wir bewegen uns im Kreis, zugleich bewegen wir uns aber nach vorne und unser ‹Kreis› hat ein Anfang und ein Ende. Und was wir, geometrisch gesehen, bei dieser Art der Bewegung erhalten, ist eben kein Kreis, sondern eine Spirale; wie hier in der Kirche.

Die Spirale ist ein Symbol der christlichen Zeitvorstellung:

Ganz in der Mitte die Osterkerze als Symbol für Christus und hiermit für den Anfang. Denn, wie es in dem vierten Evangelium so schön heisst, durch ihn, den Logos, ist alles geworden; die ganze Welt, wie wir sie heute kennen. Die einzelnen Elemente der Spirale, wie Steine, Pflanzen und Tiere, erinnern dabei an die Geschichte der Schöpfung. Was hier noch fehlt, sind allerdings die Menschen. Deswegen wird jede und jeder von Euch heute zu einem späteren Zeitpunkt eingeladen, die Spirale in dieser Hinsicht zu vervollkommnen und zu beleben. Ausserdem erinnert die Osterkerze in der Mitte nicht nur an den Anfang der Welt, die durch Christus geschaffen wurde, sondern auch an die Menschwerdung Christi und seine Geburt in Betlehem und hiermit an den Anfang einer neuen Menschheitsgeschichte und einer neuen Schöpfung. Denn in Christus tragen die «Dornen» wieder «Rosen», wie es in dem alten schönen Lied heisst. Die Rose im Paradies hatte nämlich noch keine Dornen, die hat sie erst nach dem Fall der Menschheit bekommen, und die Menschheit ist mit der Zeit unglücklicherweise zu einem echten Dornenstrauch ohne Laub und Blüten geworden.

Aus diesem Grund wurde zu der Zeit von Noah ein Teil der Menschheit vernichtet. Doch bis zu der Menschwerdung Christi blieben die Blüten aus. Nun gibt es wieder Rosen, die Dornen der alten Menschheit sind aber immer noch da. Deswegen kommt Christus noch einmal, um die Dornen von den Rosen zu trennen und eben darüber spricht das heutige Evangelium. Und wenn hier etwas sicher ist, dann ist es die Tatsache, dass der Herr genauso unerwartet kommt, wie die Flut in den Tagen des Noach:

Die Menschen gehen ihren Geschäften nach, essen, trinken, heiraten, feiern, kaufen ein, und plötzlich ändert sich alles – in der Mitte des Alltags bricht die alte Welt zusammen und eine neue Welt bricht ein. Und die Chance, dass es bald geschieht, wird mit der Zeit immer grösser, zumal immer weniger Menschen die Ankunft des Herrn – den wahren adventus domini – erwarten. Waren es in der ersten Generation der Christen noch die Meisten, sind es heute wohl nur die Wenigen. Denn «Advent» bedeutet heute vor allem: «bald ist Weihnachten». So wie nach Abend die Nacht kommt und nach Winter der Frühling, so kommt jedes Jahr nach Advent Weihnachten. Daran ist nichts Schlechtes, aber wir leben und bewegen uns auf diese Art und Weise nur im Kreis. Und ein Kreis ist, im Unterschied zu einer Spirale, geschlossen – nichts kommt rein und nichts kommt raus. Eine Spirale dagegen ist offen: sie lässt sowohl die Wiederholung als auch die Bewegung nach vorne zu. Und das Leben braucht beides: sowohl die Bewegung nach vorne als auch die Wiederholung. Denn fundamentale Strukturen der Natur entstehen durch Bewegung und Wiederholung, und ebenso literarische oder musikalische Kunstwerke, indem sie das Leitmotiv auf verschiedenen Ebenen wiederholen und dennoch sich nicht im Kreis drehen. In unserem Leben schenkt uns die Wiederholung von Tages- und Jahreszeiten die wichtige Stabilität und das Bewusstsein, dass alles einen Anfang und ein Ende hat, bringt uns wiederum die notwendige Offenheit fürs Neue. Denn um glücklich zu sein, braucht es beides – wir brauchen eine gewisse Stabilität, doch wir wollen im Leben auch vorwärts kommen. Denn eines Tages kommt das Ende für jeden von uns und dann wird der Teppich unseres Lebens vor Gott aufgerollt und wir sehen all seine Muster auf einmal. Mit dem Tod verlassen wir nämlich den ‹Garten der Zeit›, in dem wir jetzt leben, d.h. diese Welt, und unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden zu einer Einheit. Denn, wie schon (vor Albert Einstein) Augustinus geschrieben hat (De civitate Dei XI,6), die Welt ist nicht «in» der Zeit, sondern «mit» der Zeit erschaffen worden – die Zeit ist ein Teil dieser Welt; sie ist mit ihr erschaffen worden und sie hört zusammen mit ihr eines Tages auch auf zu existieren.

Dies passiert am Ende der Geschichte oder eben dann, wenn wir diese Welt verlassen. So wurde auch das Wort Jesu aus dem Matthäusevangelium, das wir heute gehört haben, schon von Anfang an so verstanden und ausgelegt, dass es sich sowohl auf das Ende der Welt als auch auf das Ende des Menschenlebens bezieht. Die Männer und Frauen, die nebeneinander den Alltag bewältigen, sind ein Bild für die Scheidung der Welten; der Hausherr, der über sein Haus wacht, ist dann ein Bild für uns persönlich. Und üblicherweise wurde dieser Abschnitt des Matthäusevangeliums in der Adventszeit gelesen. Das ist heutzutage immer weniger der Fall, zumal man sich in der Adventszeit vor allem auf Weihnachten besinnen will und schon weniger auf die Wiederkunft Christi und das damit verbundene Gericht. Doch so geht ein Teil der christlichen Tradition verloren und die offene Spirale unserer Zeitwahrnehmung wird dadurch immer mehr zu einem geschlossenen Kreis. Ausserdem wird so das Thema des Gerichts immer mehr zu einem Tabuthema, wozu es meines Erachtens keinen Grund gibt. Erstens bezieht sich vieles davon, was im Neuen Testament über das Thema gesagt wird, nicht auf Christen bzw. nicht auf diejenigen, die «in Christus» sind; und zweitens muss man sich das Gericht anders vorstellen als man es meistens tut. Denn man stellt sich hier Gott oft als einen gnadenlosen Strafrichter vor, der Familien auseinander reisst. Das ist aber nicht der Fall.

Das griechische Wort fürs Gericht ist «κρίσις» und von diesem Wort stammt auch unser Wort «Krise». Bei einer Krise bricht meistens eine alte Ordnung zusammen und eine neue Ordnung entsteht; vor allem wird aber bei einer Krise schnell klar, was wirklich ein Fundament hat und was nicht, und es wird die Wahrheit offenbart. Dies passiert auch in einschneidenden Momenten der Geschichte, wie zum Beispiel bei Revolutionen. Wie in Tschechien vor dreissig Jahren, wo innerhalb von Wochen das alte totalitäre System plötzlich zusammenbrach. Dabei wurden damals auch die Namen der ehemaligen Mitarbeiter der «Staatssicherheit» veröffentlicht und viele Dokumente, die bis dahin geheim waren. Und dies hat in einigen Familien zu einer echten «κρίσις» geführt, als es offensichtlich wurde, dass für die Verfolgung eines Familienmitglieds ein anderes Familienmitglied verantwortlich war. In solchen Situationen scheiden sich plötzlich die Welten und tiefe Risse ziehen sich durch Länder, Städte und Familien. Die Liebe und die Versöhnung können sie aber überbrücken. Und dies ist auch der Grund, warum wir im Neuen Testament immer wieder zur Versöhnung aufgefordert werden, wie zum Beispiel in der Bergpredigt am Anfang des Matthäusevangeliums, wo es heisst:

Schliess ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist! Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben und du wirst ins Gefängnis geworfen. (Mt 5,25)

Der Richter ist unser Gewissen und das Gefängnis die Einsamkeit. Und deswegen sollten wir immer wieder Frieden schliessen – mit unseren Nächsten, aber auch mit sich selbst. Denn wenn das Tageslicht kommt, wird alles offenbar, und in der neuen ‹Welt ohne Zeit› wird Gott alles zusammenführen. Unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft werden in uns zu einer Einheit und diese Einheit müssen wir zuerst verkraften. Das ist das Gericht der kommenden Welt. ‹Seid wachsam!› bedeutet also in der Adventszeit: Schliesst Frieden mit euren Nächsten und mit sich selbst und bleibt offen, denn ‹ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt› (Mt 24,42).