Vom Danken und Glauben (Lk 17,11–19)

Steh auf und geh! Dein Glaube hat dich gerettet. (Lk 17,19)

Die heutige Erzählung aus dem Lukasevangelium über die Heilung der zehn Aussätzigen bzw. Leprakranken ist zwar nicht so bekannt wie zum Beispiel die Geschichte über den barmherzigen Samariter, ganz unbekannt ist sie aber auch nicht. Und interessanterweise steht auch hier ein Samariter im Zentrum der Geschichte, der als der Einzige von den zehn Geheilten zurückkehrt, um sich zu bedanken. Dies ist auch der Grund, warum in einigen Bibeln dieser Abschnitt die Überschrift «Der dankbare Samariter» trägt.

Für uns klingt die Geschichte etwas exotisch, denn die Lepra, diese schlimme ansteckende Krankheit, gehört zum Glück nicht mehr zu unserem Alltag und sie ist heute auch heilbar. Die Weltgesundheitsorganisation registriert aber jedes Jahr weltweit immer noch mehr als 200.000 neue Erkrankungen und noch im 19. Jahrhundert war die Lepra in Europa sehr verbreitet – der letzte Leprakranke starb in der Schweiz im Jahre 1927 im Oberwallis. In vielen Entwicklungsländern unterschiedet sich der Alltag der Leprakranken in vielerlei Hinsicht auch kaum von dem Alltag der Leprakranken zur Zeit Jesu – sie werden stigmatisiert, von der Gesellschaft ausgeschlossen, und leben in eigenen Kolonien. Denn die Lepra hinterlässt sichtbare Spuren und auch wenn man erfolgreich therapiert wurde, kann man nur selten ins normale Leben zurückkehren.

Doch die zehn Leprakranken in unserer Erzählung haben Glück. Der berühmte Heiler und Wundertäter Jesus ist unterwegs nach Jerusalem und wie es der Zufall will, geht er bei ihnen vorbei. Und das ist die Chance ihres Lebens. Sie sehen ihn mit dem Schar seiner Jünger schon von weitem und rufen: «Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns!». Und ja, er bleibt stehen und sagt zu ihnen: «Geht, zeigt euch den Priestern!» Denn nur der Priester konnte sie – wie heute der Arzt – offiziell für gesund erklären und das war das Ticket zurück ins Leben. Und unterwegs geschah auch das Wunder: während sie hingingen, wurden sie rein. Die Krankheit ist verschwunden, sie wurden gesund und fanden zurück ins Leben. Doch nur ein Einziger, ein Samariter, fand den Weg zu Jesus zurück, um sich zu bedanken.

Viele Prediger fokussieren sich hier auch auf die Dankbarkeit des Samariters und darauf, wie undankbar die anderen neun waren, und man wird belehrt, dass man dankbar sein soll. Und das ist bestimmt ein Punkt: Wir (moderne) Menschen sind nämlich nicht besonders dankbar und in den meisten Fällen liegt der Grund darin, dass wir die guten Sachen in unserem Leben einfach für selbstverständlich halten. So rechnen wir automatisch damit, dass es bestimmt eine Pille gibt, die uns heilt, wenn wir krank sind, und das möglichst schnell. Und ja zum Glück gibt es in der Tat Antibiotika, die diese medizinischen Wunder bewirken können, und langsam lassen sich sogar viele Arten von Krebs erfolgreich therapieren. Die Kindersterblichkeit ist signifikant gesunken und man lebt insgesamt länger. Dies führt aber auch dazu, dass man sich heutzutage bei Gott oder beim Arzt für die Heilung nicht mehr bedankt, zumal man es für selbstverständlich hält. Und mittlerweile hat man sogar das Gefühl, dass man Anspruch auf ein gutes Leben habe – auf ein Leben ohne Krankheit, Armut oder Tod; als ob ein glückliches Leben ein Menschenrecht wäre. Und um so grösser ist dann das Entsetzen, wenn man feststellen muss, dass es dem nicht so ist und dass man auch an einer banalen Infektion sterben kann, wenn die Antibiotika aus irgendeinem Grund nicht wirken; was immer wieder und auch immer häufiger vorkommt. In so einer Situation wenden sich dann viele doch noch zu Gott als zur letzten Hoffnung. Und ich bin hier doch etwas optimistischer und denke, wenn heute bei uns zehn Menschen auf so eine wundersame Art und Weise geheilt wären, würden doch mehr als nur einer den Weg zurück zu Gott finden, um ihm «Danke» zu sagen. Denn die Geschichte über den dankbaren Samariter ist in den vergangenen Jahrhunderten unser christliches Erbe geworden; aber wer weiss, vielleicht täusche ich mich.

Doch ich denke nicht, dass diese Geschichte niedergeschrieben wurde, um uns zu belehren, dass wir dankbar sein sollten, sowie sie uns auch nicht sagen will, dass Gott (oder Jesus) immer alle heilt. Denn der Evangelist Lukas war ein gebildeter Historiker und er wusste, dass die Menschen schon immer nicht besonders dankbar waren, sowie er auch wusste, dass Jesus nicht immer alle heilen konnte (vgl. Lk 4,16–30). Doch was will uns diese Erzählung dann sagen? Das werde ich Ihnen gleich verraten und noch mehr als das. Ich werde Ihnen heute auch verraten, wie man als Prediger oder Leser jede Evangeliumserzählung richtig deuten kann:

Das Evangelium, griechisch «euangélion» bedeutet ja «Gute Nachricht»: «eu» für «gut» und «angélion» für «Nachricht» oder «Botschaft», wovon zum Beispiel auch das Wort Engel kommt, was im Grunde «Botschafter» bedeutet. Würde das Evangelium zu uns heute also per Post kommen, würde es wohl keinen grauen amtlichen Briefumschlag mit einem offiziellen Stempel haben, sondern sehr wahrscheinlich einen rosaroten Briefumschlag mit Herzchen und Sternchen usw., denn im Grunde ist es ein Liebesbrief von Gott. Und ich denke, keiner von uns, der so einen Briefumschlag im Briefkasten finden würde, würde darin eine Abmahnung oder Vorladung erwarten. Als Frau würde man sich vielleicht fragen, welcher geheimnisvoller Verehrer diesen Brief wohl geschickt hat, und als Mann wäre man vielleicht etwas amüsiert. Und das ist genau die Einstellung, die man haben muss, wenn man das Evangelium lesen und verstehen will – man sollte etwas Geheimnisvolles und Fröhliches erwarten. Denn die Botschaft des Evangeliums bedeutet immer: Freude und Leben. Und das ist bei der heutigen Erzählung nicht anders – es zeigt uns, wie wir vom Tod zurück ins Leben finden und zwar in ein Leben in Fülle; trotz Armut, Krankheit oder Tod. Denn es macht einen Unterschied, ob ich nur gesund werde oder, oder, ob ich geheilt bin.

Die Benediktinerin Charis Doepgen hat zu unserem Text eine Meditation geschrieben, die es sehr schön auf den Punkt bringt. Sie heisst Vom Denken zum Danken:

Zehn waren krank
neun wurden gesund
einer geheilt

er hat nicht nur
seine Haut gerettet
auch das Herz

eins zu neun
stehen die Chancen
umzukehren –

Gott, heile auch
die ge-danken-losen
vergesslichen Herzen

Ja, zehn Leprakranke glauben dem Wort Jesu, machen sich auf den Weg und werden gesund. Sie bekommen ihre Gesundheit zurück und eine zweite Chance auf ein normales Leben. Doch der Samariter, der zurückkehrt, bekommt mehr. Er wird nicht nur «gesund», sondern er wird «geheilt» – nicht nur seine Haut wird neu, sondern auch sein Herz. Wie so? Durch seine Dankbarkeit und durch das Wort Jesu am Ende der Erzählung. Dort steht, was wir am Anfang des Gottesdienstes gehört haben: «Steh auf und geh! Dein Glaube hat dich gerettet». Dank seiner Dankbarkeit weisst er nun, wie es mit seiner Heilung wirklich war: Es war nicht das magische Wort eines berühmten Wundertäters, das ihn gesund machte, sondern sein Glaube. Die Heilung kam direkt aus seinem Herzen und dieses Wissen ist ein Fundament für die Zukunft, eine Grundlange für eine ganz neue Existenz, für ein ganz neues Leben – für das Leben aus Glauben. Denn es macht einen grossen Unterschied, ob ich von aussen, von einem Fremden, geheilt werde und immer wieder geheilt werden muss, oder ob ich die Quelle der Heilung in mir trage. In dem ersten Fall habe ich einmalig eine wunderbare Frucht geschenkt bekommen; in dem zweiten Fall wurde im Garten meines Herzens ein wunderbarer Baum gepflanzt, der diese Früchte trägt. Und das heutige Evangelium lehrt uns, dass der Weg zum Glauben durch die Dankbarkeit führt. Denn die Dankbarkeit macht die Erde im Garten unseres Herzens weich, sodass dort Gott den Baum des Glaubens pflanzen kann. Deswegen sagte auch der berühmte deutsche Mystiker Meister Eckhart:

Wäre das Wort Danke das einzige Gebet, das du je sprichst, es würde genügen.

Das Leben aus Glauben braucht keine langen Gebete oder Meditationen. Es braucht nur eine neue Sichtweise, eine Sichtweise der Dankbarkeit. Wie Albert Schweizer in seiner Predigt am Erntedankfest geschrieben hat:

Was das Leben bringt, hat an sich keinen Wert: Es bekommt ihn erst durch den Dank zu Gott. Heute am Erntefest sind nicht die die Reichen, welche viel in die Scheunen gesammelt haben, sondern die, welche Gott viel danken. So hängt auch unser inneres Glück nicht davon ab, was wir erleben, sondern daß wir es in Dank zu Gott erleben.

Mit Dankbarkeit beginnt das Leben aus Glauben, zu dem uns das Evangelium einlädt und von dem es ein paar Kapitel vorher heisst:

Er sagte: Wem ist das Reich Gottes ähnlich, womit soll ich es vergleichen? Es ist wie ein Senfkorn, das ein Mann nahm und in seinen Garten säte; es wuchs und wurde zu einem Baum und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen. (Lk 13,18–19)

Der Glaube ist am Anfang eine kleine unscheinbare Pflanze im Garten unseres Herzens. Doch eines Tages wird aus ihr ein Baum. Und wenn es so weit ist, zieht bei uns die himmlische Welt ein.