Folge dem Stern! (Mt 2,1–12)

Wir haben seinen Stern gesehen und sind gekommen,
dem Herrn zu huldigen. (Mt 2,2)

Als ich vor Weihnachten in der Stadt war, um einige Kleinigkeiten einzukaufen, habe ich in einem Buchladen eine lustige Weihnachtskarte entdeckt: Sie zeigt die drei ‹Könige› auf ihren Kamelen irgendwo in der Wüste unterwegs nach Betlehem und vor ihnen einen grossen gelben Stern auf dem Nachthimmel. Und sie haben diese Sprechblasen, wie in einem Comics, wo der erste König fragt: «Was sagt das Navi?». Und der zweite König antwortet: «Folge dem Stern!» Ich musste diese Weihnachtskarte natürlich gleich kaufen. Die ganze Situation ist, finde ich, in zweifacher Weise komisch: Erstens hat man hier die unmögliche Verbindung von zwei Welten – von unserer modernen Welt mit ihrer ausgeklügelten Technik und von der biblischen Welt der Antike; zweitens ist die Antwort von dem Navi witzig. Diese lautet etwa nicht: «Fahren Sie 2 km weiter südwestlich» oder ähnlich, sondern einfach: «Folge dem Stern». Dafür bräuchte man ja im Grunde kein Navi. Und wer schon eine Erfahrung mit den modernen Navigationssystemen gemacht hat, der weiss, dass die Angaben oft nicht sehr hilfreich sind, wenn nicht sogar hinderlich. Die Karte stellt für mich also in erster Reihe eine Karikatur unserer modernen Welt dar.

Wir haben Satelliten, welche die Erde in 20.000 Kilometer Höhe umkreisen und uns von dort über unser Handy zum nächsten Supermarkt lotsen, der vielleicht 200 Meter entfernt ist. Und auch über die Sterne und Planeten und das Universum insgesamt wissen wir bestimmt mehr als die persischen «μάγοι», also Priester, die sich vor allem mit der Stern- und Traumdeutung beschäftigt haben. Und so ist unsere Welt mit der Zeit zum grossen Teil ‹entzaubert› worden: die himmlischen Erscheinungen haben nur für die Wenigen noch eine existentielle Bedeutung und dies gilt auch für die Natur allgemein. Die Zukunft wird nicht mehr amtlich aus dem Flug der Vögel vorhergesagt und die Wälder sind nicht mehr von Feen bewohnt. Diese ‹Entzauberung der Welt› hat zweifelsohne ihre guten Seiten, es ist uns aber dabei auch einiges verloren gegangen – und in unserem aufgeklärten Europa mehr als anderswo auf der Welt. So gehören für viele auch Engel zu ‹Fabelwesen›, also in die gleiche Kategorie wie Feen, und die Traumdeutung wird nur noch bei der Psychoanalyse wissenschaftlich akzeptiert. Aus diesem Grund hören sich heutzutage viele der biblischen Geschichten wie ein Märchen an und die Erzählung aus dem Matthäusevangelium, die wir gehört haben, gehört wohl dazu: «μάγοι» aus dem Osten, die einem «Stern» folgen, und einem kleinen armen Kind königliche Geschenke machen – schon das klingt sehr fabelhaft. Und am Ende wird zu ihnen noch im Traum gesprochen. Bei dieser Geschichte sagen auch viele Bibelwissenschaftler, dass es sich um eine Legende handeln muss; eine schöne Geschichte, aber eben eine Legende. Am ehesten ist man noch bereit dem «Stern» einen historischen Kern zugestehen und es gibt zahlreiche astronomische und astrologische Berechnungen dazu. Denn so liesse sich möglicherweise auch das Geburtsdatum Jesu bestimmen und das ist das Verführerische an diesem Unternehmen. Und so liest man alle paar Jahre in der Zeitung unter dem Motto ‹Die Bibel hat doch recht› eine genaue Beschreibung dessen, was sich in dem Jahr, als Jesus geboren wurde, auf dem Nachthimmel über Betlehem ‹wirklich› abgespielt haben soll.

Doch, was machen wir mit der restlichen Geschichte – angenommen wir haben den ‹historischen Kern› gefunden und haben die Erzählung nun auf diese Art sozusagen ‹entkernt›? Und warum hat der Evangelist nicht einfach nur die astronomischen Daten mit ihrer Deutung niedergeschrieben? Denn die antiken Autoren waren nicht so naiv, wie man es sich heute oft vorstellt, und konnten sehr wohl zwischen einer Legende und einer wahren Geschichte unterscheiden. Doch der Autor des Matthäusevangeliums hat es sich anders überlegt und jetzt haben wir hier diese schöne Erzählung, wo wir uns ewig lange bei der Suche nach der ‹historischen Wahrheit› abmühen können. Dieses Unternehmen scheint mir allerdings relativ sinnlos. Denn die Evangelien wurden aus einem anderen Grund geschrieben: Es sind «niedergeschriebene Mysterien», wie ein bekannter christlicher Theologe einmal gesagt hat (Origenes, Homiliae in Canticum Canticorum I,4). Die Autoren wollten in ihren Büchern nicht einfach eine Geschichte erzählen, sondern die Geheimnisse des christlichen Glaubens festhalten. Denn es war ihnen klar, dass sie keine Biografie des Menschen Jesus schreiben, sondern eine Biographie Gottes.

Es ist ähnlich wie bei den berühmten Bildern der französischen Impressionisten: auch sie wollten nicht einfach eine Kathedrale oder einen Seerosenteich malen, sondern sie versuchten eine Stimmung, einen flüchtigen Moment der Wirklichkeit, auf der Leinwand festzuhalten. Und auch hier wäre es genauso verfehlt nach dem ‹historischen Kern› zu suchen. Nicht weil es ihn nicht gäbe, (die Kathedrale von Rouen kann man ja noch heute bewundern), sondern, weil man damit das Wichtigste übersieht: nämlich den wunderschönen Augenblick der Wirklichkeit, der aber genauso wirklich ist, wie die Kathedrale. Wenn wir also die Bibel öffnen und in ihr eine Geschichte lesen, müssen wir dasselbe tun, als ob wir eine Galerie betreten würden. Genauso, wie wir uns in einer Galerie auf die besondere Sprache der Kunst einlassen, müssen wir uns auch in der Bibel auf ihre besondere Sprache einlassen – mit ihren Engeln, Träumen und Wundern, wenn wir diese Wirklichkeit erfassen wollen. Wir sollten die biblischen Erzählungen als ein Bild betrachten und nach dem Geheimnis des Glaubens fragen, welches der Autor hier festzuhalten versuchte.

Wenn wir es tun, stellen wir schnell fest, dass es auch in unserer Geschichte nicht darum geht, dass drei persische Weisen vor zweitausend Jahren Jesus als Kind besucht haben. Vielmehr will uns diese Erzählung, die am Anfang des Matthäusevangeliums steht, zu einer Reise einladen. Wir als Leser des Evangeliums sollten den Spuren der drei «μάγοι» und dem leuchtenden Stern nachfolgen. Und diese Einladung ist offen: sie richtet sich nicht nur an Christen, sondern an alle, die bereit sind dem Stern zu folgen. Denn die drei «μάγοι» waren keine Christen. Sie konnten aber die Zeichen des Himmels deuten und waren bereit sich auf den Weg zu machen, auch wenn sie nicht wussten, wohin genau dieser Weg führt. Die erste Botschaft dieser Geschichte lautet also: Schaue dich in deinem Leben um, sei offen für das Neue und folge dem Stern.

Wir hätten gerne einen genauen Plan für unser Leben und wollen, wie bei dem Navi, ganz präzise Angaben. Doch so funktioniert das Leben nicht. Das Leben will, dass wir unseren Weg selber finden. Und so sagt das Lebens-Navi nur: «Folge dem Stern!» Das bedeutet: folge dem inneren Licht, das jedem Menschen bei der Geburt mitgegeben wurde. Achte auf die Zeichen in deinem Leben und höre auf dein Herz, denn Gott offenbart sich jedem Menschen in der Schönheit dieser Welt und in seinem Innersten. Hier sind die drei «μάγοι» ein Symbol der Weisheit und des ‹Magischen› in unserem Leben, also des ‹wunderbaren Unerwarteten›. Mit anderen Worten könnte man sagen: Behalte den kindlichen Glauben an Wunder – und Gott wird sie bewirken. Er wird dich sicher zum Ziel führen, wie er die drei Weisen aus dem Morgenland zum Ziel geführt hat; in diesem neuen Jahr und auch in den kommenden Jahren.

Damit erschöpft sich unsere Geschichte aber natürlich nicht. Die Sterne haben Menschen schon immer fasziniert und in der Antike war man fest davon überzeugt, dass jeder Mensch seinen eigenen Stern hat – ein eigenes Licht im Dunkel der Nacht, das ihn sein ganzes Leben begleitet und seinen Lebensweg bestimmt. Ein Stern ist zwar keine Sonne, seine flackernde Schönheit weckt aber Hoffnung und man kann sich in der Nacht an so einem Stern orientieren. Das ist für den Anfang der Reise und für viele Abschnitte des Lebens bestimmt genug. Wir folgen unserer inneren Stimme und verlassen uns auf unsere Intuition. Und so ist es auch bei den Weisen in unserer Erzählung – bis sie kurz vor dem Ziel sind. Sie sind im Heiligen Land angekommen, aber dann ging es plötzlich nicht weiter. Warum es so war, erfahren wir nicht, und man müsste spekulieren – vielleicht war der Himmel von dicken Wolken bedeckt, wie es oft so im Leben der Fall ist. Und in diesem Augenblick kommt die Schrift ins Spiel – die Bücher der alten Propheten und die Priester und Schriftgelehrten haben das Wort. Und in der Tat findet man in dem kleinen Buch des Propheten Micha eine Stelle, die über den Geburtsort des neuen Königs und hiermit über das Ziel der Reise Bescheid weiss. Die zweite Botschaft unserer Geschichte ist also: Nicht nur der leuchtende Stern auf dem Nachthimmel, dein inneres Licht, kann dir auf deinem Lebensweg helfen, sondern auch die Schrift, die Bibel. Denn ab und zu, wenn die Wolken den Sternenhimmel verdunkeln, müssen wir nur auf das Wort und die Güte Gottes vertrauen und unseren Lebensweg in diesem Glauben gehen und hoffen, dass wir eines Tages wieder den Stern sehen, der uns leitet. In dieser Zwischenzeit ist das Wort ‹wie ein Licht, das an einem finsteren Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in unserem Herzen› (2 Pe 1,19), wie es schön im zweiten Petrusbrief steht. Und so konnten sich auch die drei Weisen auf den Weg machen und es heisst bald: «Siehe, der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her bis zu dem Ort, wo das Kind war» (Mt 2,9).

Das Ziel der Reise der drei «μάγοι» aus dem Morgenland ist natürlich auch die Pointe unserer Erzählung: Der Stern blieb stehen und «sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten ihm. Dann holten sie ihre Schätze hervor und brachten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben dar» (Mt 2,11). Was hier als «huldigen» übersetzt wird, heisst im Griechischen «anbeten» und wurde vor allem in Verbindung mit dem Göttlichen verwendet. Die «μάγοι» beten das Kind also an und ihre Gaben symbolisieren diese dreifache Anbetung Christi: Gold für Christus als König, Weihrauch für Christus als Gott und Myrrhe für Christus als Mensch. Die dritte Botschaft der Geschichte lautet also: Christus, der wahre Gott und Mensch, ist unser König und das Ziel der Reise eines jeden Menschen. Die frühen Bibelausleger deuten dementsprechend den Schluss der Geschichte auch als die Bekehrung der «μάγοι». Denn, wie es im Text steht: «Sie zogen auf einem anderen Weg heim in ihr Land» (Mt 2,12). Die Begegnung mit Christkind hat sie verändert und so konnten sie nicht mehr denselben Weg zurückgehen.

Die Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums erzählt uns also auf einer Ebene symbolisch die Geschichte der Menschheit, in der alle Menschen, die in ihrem Leben dem Licht folgen, früher oder später zu Christus kommen. Auf einer zweiten Ebene wird uns dann eine Geschichte über den christlichen Lebensweg erzählt, wo wir, wenn unser Stern eines Tages ‹stehen bleibt›, mit Freude erfüllt in das ewige Haus eingehen, wo wir Christus in seiner Herrlichkeit begegnen. Diese beiden Perspektiven verbindet auch das alte Gebet zum Epiphaniasfest, das wir am Anfang des Gottesdienstes gebetet haben:

Durch den Stern, dem die Weisen gefolgt sind, hast du, Gott, am heutigen Tag den Völkern deinen Sohn geoffenbart. Auch wir haben dich schon im Glauben erkannt. Führe uns vom Glauben zur unverhüllten Anschauung deiner Herrlichkeit.


Der ganze Gottesdienst wurde am 5. Januar 2020 auf Radio BeO ausgestrahlt. Die Musik nach der Predigt ist das Lied Stella Mystica, © 2015 Die Priester, Salus Advenit. Die am Anfang der Predigt erwähnte Weihnachtskarte ist eine Postkarte von © Peter Gaymann.