Über den Glauben hinaus

Wer kennt nicht das «Höhlengleichnis» des griechischen Philosophen Platon (ca. 429–347 v.Chr.), wo Menschen – von Kindheit an in einer Höhle gefesselt – nur Schatten verschiedener Gegenstände zu sehen bekommen und diese für die einzige Wirklichkeit halten? Es ist das bekannteste Gleichnis der Philosophiegeschichte überhaupt und es drückt zugleich ein allgemeines Gefühl der Menschheit aus: Die Welt ist rätselhaft und das, was wir sehen, kann nicht die ganze Wahrheit sein. Oder wie es der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe poetisch sagt: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis» (Faust 2,V). Doch ein Gleichnis ist ein Zeichen, das auf etwas Anderes hinweist, und in diesem Fall ist es ein Wegweiser zum Unvergänglichen.

Wie die meisten Religionen und Philosophien knüpft auch das Christentum hier an und verspricht den Suchenden, sie in die Wahrheit zu führen, wie der Apostel Paulus schreibt: «Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin» (1Kor 13,12). Doch wann geschieht es? Wann sehen wir nicht mehr nur rätselhafte Umrisse, sondern schauen Gott von Angesicht zu Angesicht? 

Das Johannesevangelium zeigt uns hier den einfachsten Weg. Hier heisst es gleich am Anfang: «Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht» (Joh 1,18). In Christus können wir Gott erfahren, ja noch mehr: In Christus können wir Gott berühren. Denn am Ende der Geschichte sagt der Auferstandene: «Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!» (Joh 20,27). Und mit dieser Berührung verlassen wir das Grab, die Welt der Schatten und Gleichnisse, und werden über den Glauben hinaus geführt, hin zu der Wirklichkeit der Auferstehung. Denn die Auferstehung geschieht überall dort, wo wir Gott berühren und von ihm berührt werden: hier blüht das Leben auf.

Haben wir also keine Angst, Gott zu berühren und von ihm berührt zu werden: dafür ist die Osterzeit da.

Wenn die Schwalbe im Frühling zurückkommt

Über das Evangelium der Natur und ein vergessenes Christentum

Es ist leicht, an diesen Tagen über die Auferstehung zu predigen. Denn Ostern feiert man ja jedes Jahr nach dem ersten Frühlingsvollmond und zu dieser Zeit wacht die Natur gerade aus ihrem Winterschlaf auf. Die Welt um uns herum wird dann zu einem grossen bunten Bilderbuch, in dem die Natur ein Gleichnis über die Rückkehr des Lebens erzählt. Jede Blume und jeder Vogel verkünden nun das Osterevangelium. Der Prediger muss darauf nur aufmerksam machen. Denn das Kirchenjahr gleicht sich hier dem Rhythmus der Natur an, wie etwa auch zu Weihnachten, wo die Geburt Christi und mit ihr das aufgehende Licht an dem alten Tag der Wintersonnenwende gefeiert wird.

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