Vom offenen Himmel (Mk 1,7–11)

Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel sich öffnete… (Mk 1,10)

Wenn ich an diesen Tagen an den Sommer denke, sehe ich nur verblasste Bilder vor meinem inneren Auge: Denn der letzte Sommer liegt bereits tief in der Vergangenheit und der kommende Sommer ist noch sehr weit weg. Ich erinnere zwar noch die Wärme, den blauen Himmel, die blühende Natur und die strahlende Sonne – all diese Eindrücke und Erinnerungen erscheinen aber irgendwie unwirklich. Denn wir haben in diesem Winter an vielen Tagen und Wochen, ja seit einer gefühlten Ewigkeit, mit einer grauen Decke aus Wolken zu kämpfen. Diese Wolkendecke lässt am Tag kaum die Sonne durch und auch in der Nacht herrscht sie auf dem Himmel, sodass man sich nicht einmal an den Sternen oder dem Mond erfreuen kann. Nur zwischendurch bekommt man den blauen Himmel wieder kurz zu sehen, wie diese Woche. Die Freude über die Sonnenstrahlen, die die dicken Wolken durchbrechen, oder über den freien Himmel, ist aber meistens so kurz, dass sie die Stimmung nicht wirklich nachhaltig verbessert. Den meisten Menschen fällt an solchen Tagen dann die Decke auf den Kopf – in diesem Fall eine dicke Wolkendecke. In Finnland, wo ich lange Zeit gelebt habe, bevor ich in die Schweiz gekommen bin, waren wiederum im Winter nicht die Wolken das Problem, sondern es war die Länge der Tage – man hat die Sonne zwar gesehen, aber nur ein paar Stunden am Tag. Jetzt könnte man streiten, was schlimmer ist, es ist aber eine Tatsache, dass sich der Mangel an Sonnenlicht ziemlich sicher auf die Stimmung von Menschen auswirkt. Man wird zwar nicht gleich depressiv, aber es ist zweifelsohne kein Zustand des Glücks, wenn man Wochen oder sogar Monate mit einem Mangel an Sonnenlicht kämpfen muss.

Zum Glück weiss man sich heutzutage zu helfen: In der Schweiz nimmt man den Zug oder das Auto und man fährt etwas weiter in die Berge, sodass man dann die Wolkendecke schön von oben betrachten und die Sonne geniessen kann. In Skandinavien kauft man sich wiederum eine Tageslichtlampe und man widmet sich zu Hause der Lichttherapie. Beides funktioniert wunderbar, es muss allerdings gemacht werden. Und dafür muss man wissen, was die Ursache für die durchgehende Müdigkeit und die trübe Stimmung ist – nämlich der Lichtmangel. Dies mag zwar einfach klingen, es gibt aber relativ viele Leute, die diesen Zusammenhang nicht sehen und denken, sie seien irgendwie chronisch müde oder depressiv. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Lichtmangelerscheinungen sehr langsam auftreten. Ich habe in Finnland, denke ich, zwei Jahre gebraucht, bis ich es mit dem Lichtmangel, über den alle gesprochen haben, wirklich ernst genommen habe.

Doch jetzt sind einige von Ihnen vielleicht schon ein bisschen ungeduldig und fragen sich, was das alles mit der «Taufe des Herrn» zu tun hat, die wir heute feiern. Der bekannte französische Jesuit, Paläontologe, Anthropologe und Philosoph Pierre Teilhard de Chardin hat einmal geschrieben:

Wir sind nicht menschliche Wesen, die spirituelle Erfahrungen haben, sondern spirituelle Wesen, die menschliche Erfahrungen haben. (The Human Phenomenon, New York: 1975)

Ich denke, dies gilt für alle Menschen, zumal wir als Wesen Bewohner zweier Welten sind – der unsichtbaren himmlischen Welt des Geistes und der sichtbaren irdischen Welt des Körpers, um es mythologisch auszudrücken. Für Christen verschärft sich dieses Problem allerdings mit der Taufe. Und das ist sehr wahrscheinlich noch eine Untertreibung. Denn das, was im Neuen Testament zu diesem grossen Thema steht, ist noch viel radikaler. Ich zitiere hier heute nur die zwei bekanntesten Abschnitte aus den Briefen des Apostels Paulus. In seinem Brief an die Gemeinde in Rom schreibt er:

Wisst ihr denn nicht, dass wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden ja mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod, damit auch wir, so wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, in der Wirklichkeit des neuen Lebens wandeln. (Röm 6,3–4)

Und in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt er:

Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. (2Kor 5,17)

In der Kirche hört man oft von diesem wunderbaren neuen Leben, das uns mit der Taufe geschenkt wurde. Denn die Worte Gottes, die Jesus bei seiner Taufe im Jordan gehört hat, gelten auch jeder Christin und jedem Christ: ‹Du bist meine geliebte Tochter, du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden› (Mk 1,11), heisst es im Markusevangelium.

Allerdings vergisst man oft, dass diese ‹Wiedergeburt aus Wasser und Geist› (Joh 3,5), wie man die Taufe auch nennt und die in unserer Tradition schon Kinder erfahren dürfen, notwendigerweise den Tod des ‹alten Menschen› bedeutet. Die christliche Existenz ist in dieser Hinsicht also etwas radikal: Der ‹alte Mensch› in uns, der noch das Erbe Adams war, wurde mit der Taufe vernichtet, der ‹neue Mensch› in Christus muss allerdings erst noch wachsen. Wie Paulus in seinem ersten Brief nach Korinth schreibt:

Adam, der erste Mensch, wurde ein irdisches Lebewesen. Der letzte Adam wurde lebendig machender Geist. Der erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde; der zweite Mensch stammt vom Himmel. (1Kor 15,45.47)

Ist jeder Mensch als Lebewesen sozusagen von Natur aus ein Bürger zweier Welten, wird jeder Christ zum Bürger nur einer Welt, und zwar der himmlischen Welt, und hiermit zu einem spirituellen Wesen. Und dies lässt sich nicht einfach ungeschehen machen. Es hilft auch nicht aus der Kirche auszutreten oder zu einer anderen Religion zu konvertieren, denn das alles ändert nichts daran, was ich war und bin. Dies erklärt auch, warum in einigen Schriften des Neuen Testaments die «Welt» als feindliche Umgebung betrachtet wird, wie zum Beispiel im ersten Johannesbrief, wo uns der Apostel schreibt:

Liebt nicht die Welt und was in der Welt ist! Wer die Welt liebt, in dem ist die Liebe des Vaters nicht. (1Joh 2,15)

Dies bedeutet nicht, dass wir uns etwa nicht über die schönen Berge oder ein neues Buch freuen dürften – es geht um die Bindung zu dieser irdischen Welt, ja eine Liebesbeziehung zu dieser Welt. Denn die Liebe wird von dieser Welt nicht mehr erwidert. Die Erklärung dazu kommt in dem ersten Johannesbrief etwas später. Dort steht:

Wir heißen Kinder Gottes und wir sind es. Deshalb erkennt die Welt uns nicht, weil sie ihn [= Christus] [auch] nicht erkannt hat. (1Joh 3,1)

Wundert euch [also] nicht, Brüder und Schwestern, wenn die Welt euch hasst! (1Joh 3,13)

Als Christinnen und Christen leben wir zwar noch in dieser Welt, diese Welt ist aber keine passende Umgebung mehr für uns.

Denn wir alle sind «Kinder des Lichtes und Kinder des Tages», wie es an einer anderen Stelle im Neuen Testament steht (1Thess 5,5), und diese Welt ist für uns – spätestens seit unserer Taufe – definitiv zu dunkel. Oder anders gesagt: Die alte irdische Welt hat nicht das wahre Sonnenlicht, das wir zu unserem Leben und Wachstum brauchen. Und damit komme ich zu meinen Ausführungen vom Anfang zurück: Oft wundern wir uns, dass wir als Christinnen und Christen müde sind und von dem neuen Leben, das uns mit der Taufe geschenkt wurde, nichts spüren. Vielleicht liegt es daran, dass uns das Licht der wahren Sonne, das Licht Christi, im Alltag fehlt, und dies die ersten Lichtmangelerscheinungen sind: Abgelenkt vom Treiben der Welt oder gefangen im Stress des Alltags, haben wir vergessen, was wir wirklich brauchen; oder es erst gar nicht gemerkt, dass uns das wahre Licht fehlt. Und auch in diesem Fall hilft nicht, wenn wir zwischendurch ein paar Sonnenstrahlen sehen und uns kurz auf der Sonne aufwärmen. Wir müssen höher gehen, so hoch, dass wir die Wolkendecke des Alltags von oben betrachten können; oder, wenn ich das Beispiel aus Skandinavien heranziehen darf, wir sollten uns für die dunklen Tage des Jahres mindestens eine Tageslichtlampe für Zuhause besorgen.

Es muss nicht immer eine Pilgerreise zu einem heiligen Ort sein, wie über den Jakobsweg nach Santiago de Compostela, um genug Sonne tanken zu können. Auch der normale Sonntagsgottesdienst oder ein kurzes Gebet im Laufe des Tages strahlt für ein offenes Herz sehr viel Licht aus. Es muss aber regelmässig geschehen. Und hier muss jeder ein bisschen experimentieren bis er irgendwann ein tägliches Ritual gefunden hat, das sich auch im Alltag praktizieren lässt. Denn der Alltag ist der Ort, wo wir das wahre Licht am meisten brauchen.

Der Himmel steht uns seit unserer Taufe weit offen und es liegt nur an uns, damit wir das wahre Licht (Joh 1,9) in unser Leben reinlassen. Und wenn uns das gelingt, dann passiert das, was die Benediktinerin Silja Walter in ihrem Gedicht «Und das Licht» schreibt:

Und das Licht springt
in meinen
Nachtschattenwald

und das Morgenrot
brodelt
im Trog
vor dem Haus

Der Trauerbaum tanzt

Und die Nacht
läuft aus.

Das wünsche ich uns allen in diesem Jahr.