Die Tempelreinigung (Joh 2,13–22)

Er aber sprach über den Tempel seines Leibes … (Joh 2,21)

Jetzt wundern sich vielleicht einige von Ihnen, was für eine drastische Erzählung wir heute gehört haben, denn so kennen wir Jesus eigentlich nicht. Und historisch gesehen müsste man diese Erzählung eigentlich erst nach dem Einzug Jesu in Jerusalem lesen, also nach dem Palmsonntag, wie es in den anderen Evangelien steht. Doch gerade im Johannesevangelium steht diese Erzählung ganz am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu: Nachdem Jesus die ersten Jünger berufen hatte und in Kana in Galiläa das Wasser in Wein verwandelt hat, geht er zum Paschafest nach Jerusalem, wo er die Händler aus dem Tempel vertreibt. Dass er sich damit in Jerusalem nicht sehr viele Freunde gemacht hat, das ist offensichtlich. Es ist, als ob jemand aus dem Thurgau vor Ostern nach Bern käme und so etwas in Berner Münster oder vor dem Bundeshaus anstellen würde. Deswegen sind viele Theologen auch der Meinung, dass es gerade diese Aktion Jesu war, die am Ende zu seiner Verurteilung am meisten beigetragen hat. Die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas, die diese Erzählung direkt mit der Passionsgeschichte verbinden, könnten also in diesem Fall in der Tat historisch recht haben. Doch das Johannesevangelium, das nicht selten im Detail die genaueren Informationen zu haben scheint, erzählt vieles anders, und zwar aus einem bestimmten Grund. Das vierte Evangelium interpretiert die Geschichte Jesu geistig. Deswegen hat man das Johannesevangelium auch als ein «geistiges Evangelium» bezeichnet (Klemens von Alexandrien) und einen Adler, der vom Himmel her alles Irdische überblickt, zum Symbol des Evangelisten Johannes gemacht. Und auch in diesem Fall will uns der vierte Evangelist mehr erzählen als eine blosse Geschichte aus dem Leben Jesu und das ist auch der Grund, warum wir diese Erzählung schon jetzt lesen dürfen und nicht erst in der Karwoche.

Auf den ersten Blick war die Aktion Jesu im Jerusalemer Tempel zuerst eine äusserliche Reinigung: Er macht eine Geissel aus Stricken und vertreibt die Händler und Wechsler. Doch warum eigentlich? Er sagt: «Macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!» (Sach 14,21). Heutige Bibelleser stellen sich hier gleich einen ‹Jahrmarkt› im Tempel vor, aber das war sehr wahrscheinlich nicht der Fall. Ausserdem hat man all diese Händler und Wechsler gebraucht: Von den Händlern hat man die Opfertiere gekauft, sowie man heute in vielen Kirchen eine Kerze kaufen kann, und die Wechsler haben Münzen umgetauscht, damit man im Tempel nicht die Münzen mit einer Abbildung des Kaisers verwenden muss und so nicht gegen die Gebote Gottes verstosse. Dennoch vertreibt Jesus alle. Doch interessanterweise fragt ihn niemand: «Warum tust du das?», sondern: «Welches Zeichen lässt du uns sehen, dass du dies tun darfst?» Man wundert sich also nicht, dass er so etwas tut, sondern man fragt lediglich, ob er es darf. Die dort versammelten Juden, haben nämlich in der Aktion Jesu eine prophetische Handlung erkannt. Denn bei dem Propheten Sacharja stehen folgende Worte:

An jenem Tag wird auf den Pferdeschellen stehen: Dem HERRN heilig; und die Kessel im Haus des HERRN werden wie die Opferschalen vor dem Altar gelten. So wird jeder Kessel in Jerusalem und Juda dem HERRN der Heerscharen heilig sein und alle, die opfern, werden kommen und welche von ihnen nehmen und darin kochen. Und kein Händler [!] wird an jenem Tag mehr im Haus des HERRN der Heerscharen sein. (Sach 14,20–21)

Am Tag des Herrn wird also alles Profane heilig und die Inschrift, die bisher nur den Priestern vorbehalten wurde, findet man sogar auf den Pferdeschellen. Denn alle werden Priester und alles wird heilig sein. Und es werden auch keine Händler mehr im Haus des Herrn gebraucht, zumal man dort keine Tiere mehr opfern wird.

Kommt ihnen diese Schilderung bekannt vor? Ein ‹Priestertum aller Heiligen› und ‹Tempel›, wo man keine Opfer mehr bringt? Ja, es passt ziemlich genau auf die neue christliche Religion. Jesus selbst läutet hier also die Geburt einer neuen Ära an, wie er es auch selbst später im Johannesevangelium bestätigt, wenn er zu einer Samariterin sagt:

Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn so will der Vater angebetet werden. (Joh 4,21.23)

Die Frage ist also lediglich, ob Jesus der erwartete Messias ist oder nicht. Denn wenn er sich als Messias legitimiert, kann er auch die Händler aus dem Tempel vertreiben und vieles mehr. Doch stattdessen gibt Jesus den Juden in Jerusalem folgende rätselhafte Antwort: «Reisst diesen Tempel nieder und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten» (V. 19).

Offen gesagt, es ist kein Wunder, dass hier Jesus missverstanden wurde und diese Worte dann beim Prozess auch gegen ihn verwendet wurden, wie wir aus den anderen Evangelien erfahren. Bei Markus sagen dann Zeugen zum Beispiel Folgendes aus:

Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen von Menschenhand gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht von Menschenhand gemacht ist. (Mk 14,58)

Und noch am Kreuz wird Jesus von den Schaulustigen mit folgenden Worten verhöhnt:

Ach, du willst den Tempel niederreißen und in drei Tagen wieder aufbauen? Rette dich selbst und steig herab vom Kreuz! (Mk 15,29–30)

Die Tempelreinigung war im Leben Jesu also nicht nur eine kleine Auseinandersetzung von vielen, sondern es war DIE Auseinandersetzung, die direkt zum Kreuz auf Golgatha führte. Und deswegen stellt Johannes diese Erzählung auch an den Anfang seines Evangeliums, denn alles, was noch kommt, soll auf dem Hintergrund der Passion und Auferstehung Jesu gelesen werden.

Und im Unterschied zu den anderen Evangelisten lässt Johannes den umstrittenen Satz mit dem Tempel nicht einfach so stehen oder sogar als eine ‹Falschaussage› gelten, sondern er bestätigt die Worte Jesu und fügt hinzu: «Er aber meinte den Tempel seines Leibes» (V. 21). Und die ersten Leser des Evangeliums haben es in puncto Verständnis noch einfacher gehabt, denn Johannes verwendet im Griechischen für den «Tempel» zwei verschiedene Wörter: für den Jerusalemer Tempel das Wort «ἱερόν» und für den Tempel im übertragenen Sinne das Wort «ναός». Die Juden sprechen also von «ἱερόν» und Jesus von «ναός». Für den Leser war also von Anfang an klar, dass sie wohl von unterschiedlichen Sachen sprechen. In den deutschen Übersetzungen verschmelzen leider beide Begriffe und dadurch wirkt das Missverständnis der Juden auf eine Art und Weise kleiner. Dabei hätten sie nur etwas aufmerksamer zuhören müssen und ihn fragen, warum er jetzt über «ναός» spricht.

Aber nicht nur das Johannesevangelium, sondern auch der Apostel Paulus, wenn er in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth folgende Zeilen schreibt, verwendet das griechische Wort «ναός»:

Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? (1 Kor 6,19)

Ja, der neue Tempel des anbrechenden messianischen Zeitalters steht nicht in Jerusalem, sondern hier in Steckborn – und überall dort, wo sich Christen versammeln.

Für uns Christen mag es vielleicht eine geläufige Vorstellung sein, dass unser Leib ein Tempel Gottes ist, aber für einen Menschen aus einem anderen Kulturkreis ist es eine sehr radikale Aussage. Und ein solcher Mensch würde uns wahrscheinlich auch fragen, was hat es dann mit all den Kathedralen, Basiliken und anderen sakralen Räumen an sich, wenn uns praktisch jeder Ort als ‹Kirche› dienen kann? Viele von meinen Kolleginnen und Kollegen würden dann wohl sagen: Eigentlich gar nichts – unsere Kirche sei nur ein Raum, wo wir uns versammeln, wie andere Häuser auch, vielleicht etwas grösser und schöner. Doch ich denke, in diesem Fall hat die Reformation das Kind mit der Badewanne ausgeschüttet und falsche Schlüsse aus der biblischen Aussage gezogen, dass unser Leib der Tempel Gottes ist. Denn in dem Zitat aus dem Buch des Propheten Sacharja heisst es genau nicht, dass alles dann profan wird, sondern im Gegenteil: Alles wird durch die Gegenwart Gottes geheiligt – zuerst unser Leib, danach das Haus, wo wir uns versammeln, das Geschirr, mit dem wir das Abendmahl feiern und nach und nach unser ganzes Leben bis zu den erwähnten «Pferdeschellen». Alles in unserem Leben soll heilig werden, denn das alles gehört dem Herrn.

Auch wenn wir also keinen besonderen Ritus für die Weihe einer Kirche haben, ist unsere Kirche ein heiliger Ort, zumal sie durch die Gegenwart und das Gebet von uns und all den Generationen der Christinnen und Christen vor uns geweiht und geheiligt wurde. Und was über unsere Kirche gilt, gilt viel mehr auch über unsere Herzen. Denn unser Herz ist das Allerheiligste in diesem Tempel – von dort strahlt die Kraft Gottes in unserem Leben aus. Lasst uns also in dieser Fastenzeit auch eine kleine Tempelreinigung durchführen und unsere Herzen reinigen und entrümpeln, überall dort, wo sie vielleicht zu einer Markthalle geworden sind. Denn dann wird wieder aus dem Allerheiligsten in unserem Leben das wahre Licht ausstrahlen und alles in unserem Leben und um uns herum heiligen und verwandeln können.