Vom Neuanfang Gottes (Mk 4,26–34)

Denn von selbst bringt die Erde Frucht… (Mk 4,28)

Als ich diese Predigt vorbereitet habe, war es ziemlich klar, dass sich bei uns bald alles ändern wird. Denn wir standen kurz vor der Geburt unseres Sohnes und der geplante Termin war Anfang Juni. Nun ist der kleine Benedikt da und in der Tat hat sich so ziemlich alles in unserem Leben verändert. Die Nächte sind kürzer und alles ist noch etwas durcheinander. Aber es ist zweifelsohne ein guter und glücklicher Neuanfang. Es gibt aber im Leben auch Neuanfänge, die schmerzhaft sind, wo wir Abschied nehmen müssen und das Leben neu gestalten; in der Hoffnung, dass es eines Tages weiter geht, auch wenn das sprichwörtliche ‹Licht am Ende des Tunnels› noch lange nicht zu sehen ist. Sicher ist: In beiden Fällen braucht es von uns viel Kraft, sowohl körperlich als auch seelisch.

Und in diese Situation, wo wir uns Tag und Nacht abmühen, kommt das Wort Jesu aus dem Markusevangelium und will uns befreien: «Von selbst bringt die Erde Frucht», heisst es dort (Mk 4,28). Nun alle, die schon mal im Garten etwas gepflanzt haben, wissen, dass es mit dem Samen auf dem Acker nicht so ganz einfach ist. Es stimmt zwar schon, dass wir die Pflanze selber sozusagen nicht an den Blättern aus der Erde ziehen können und es am Ende immer wieder nur ein Geschenk Gottes ist, wenn aus einem kleinen Samen eine Pflanze wird, es kostet aber Arbeit: Wir müssen die Erde auflockern, wässern, Unkraut bekämpfen und so weiter. Doch im Unterschied zu dem bekannten Gleichnis vom Sämann, das Jesus bei Markus kurz vorher erzählt, scheint unser Gleichnis das ganze Ackern nicht zu interessieren. Es richtet die Aufmerksamkeit vielmehr auf die Untätigkeit des Menschen: «Er schläft und steht auf, Nacht und Tag. Und der Same sprosst und … er weiss nicht wie» (Mk 4,27). Denn während es im Gleichnis vom Sämann darum geht, wie wir das Feld unseres Herzens für das Wort Gottes vorbereiten sollten, ist die fruchtbare Erde in unserem Gleichnis bereits parat und in den Blick rückt das eigentliche Wunder des Wachstums und das Mysterium des Reiches Gottes.

Das griechische Wort, das hier im Text für das Deutsche «von selbst» verwendet wird, ist «automatos». Wir könnten also auch sagen: Die Erde bringt automatisch Frucht und zwar so, dass wir nicht einmal merken, wie es geschieht. Die Bibel verwendet hier mit Absicht Bilder des Wachstums aus der Natur, denn das Reich Gottes kommt – wie eine kleine Pflanze im Garten – langsam, unbemerkt, mit kleinen Veränderungen jeden Tag: zuerst der Halm, dann die Ähre und erst dann das volle Korn. Es ist kein Weg des schnellen Erfolgs, der uns hier vor Augen geführt wird, sondern ein langsamer Weg des alltäglichen Wachstums. Doch wir haben eine starke Verheissung: Haben wir nämlich unser Herz richtig vorbereitet, bringt dieses automatisch Frucht, wenn es das Korn, das heisst Christus als Wort Gottes, empfängt. Denn, wie der Prophet Jesaja poetisch schreibt, ‹wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt und nicht dorthin zurückkehrt, sondern die Erde tränkt und sie zum Keimen und Sprossen bringt, wie er dem Sämann Samen gibt und Brot zum Essen, so ist es auch mit dem Wort, das Gottes Mund verlässt: Es kehrt nicht leer zu ihm zurück, sondern bewirkt, was er will, und erreicht all das, wozu er es ausgesandt hat› (Jes 55,10–11).

Das Wort Gottes hat wie der Samen einer Pflanze bereits das ganze Potenzial eines neuen Lebens und eines gesegneten Neuanfangs in sich und es braucht nur Raum in unserem Herzen, um es entfalten zu können. Unser Herz muss also wie gute Erde luftig sein und offen bleiben. Wie der Dichter Hermann Hesse in seinem bekannten Gedicht «Stufen» schreibt:

Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Dieser Anfang mag zuerst klein sein, wie ein Senfkorn, doch ihm wohnt eine göttliche Kraft inne und er wird uns beschützen und uns helfen zu leben. Und eines Tages wird das kleine Korn zu einer grossen Pflanze, die sogar den auf dem Boden nistenden Vögeln des Himmels Schatten bieten kann. Dieses malerische Bild der nistenden Vögel, dem wir schon in der ersten Lesung aus dem Buch Ezechiel begegnet sind, steht symbolisch für Segen Gottes – für die Verbindung der Erde und des Himmels, die wir uns täglich mit den Worten «Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden» erbitten.

Das Interessanteste in unserem heutigen Text ist allerdings das, was Gott von uns erwartet, dass wir in der Zwischenzeit tun, um die Erde unseres Herzens luftig zu halten, nämlich: nichts. Wir sollen, wie der Mensch in unserem Gleichnis, in der Nacht einfach schlafen und am Tag aufstehen, und wir sollen nicht wissen, wie der Samen keimt und wächst. Denn das wissen zu wollen «wie» strebt nach Kontrolle. Doch wir haben keine Kontrolle über Gott und seine Welt und deswegen sollten wir für einmal loslassen, nichts tun und unwissend der Kraft des Samens vertrauen. Ähnlich wie auch Eltern lernen müssen ihren Kindern zu vertrauen, zumal sie sie nicht vor allem beschützen und auch nicht kontrollieren können. Doch es ist eine Art aktive Untätigkeit, die von uns verlangt wird und die erforderlich ist, damit das Wort Gottes in unserem Leben keimen und sprossen kann. Wir sollten, wie der Mensch in unserem Gleichnis, einen natürlichen Rhythmus finden und lernen zu warten, zumal zu viel Aktivität hier genauso schädlich ist wie zu viel Passivität. Denn oft wollen wir Sachen in unserem Leben beschleunigen und sofort Früchte sehen, obwohl die Zeit dafür gar nicht reif ist. Doch in der Erde ständig rumzuwühlen hilft dem Wachstum gar nicht, eher umgekehrt. Alles endet dann mit einer grossen Enttäuschung, die uns wiederum in eine Passivität und Resignation wirft. Diese sagt dann zu uns: Du wirst nie Früchte sehen und nagt an unserem Glauben. Und wir steuern dagegen mit mehr Aktivität und bevor wir es merken befinden wir uns in einem Kreis, aus dem es nicht einfach ist auszubrechen.

Doch die Lösung ist hier nicht einfach ein mittlerer Weg irgendwo zwischen einer übertriebenen Aktivität und Resignation, sondern es braucht von uns eine ganz neue Einstellung, wo zu handeln nichts-zu-tun bedeutet und wo wir beim Loslassen die Kontrolle im Vertrauen an Gott abgeben. Und dies muss geübt werden, denn es klingt einfacher als es ist. Hier könnten wir als Christinnen und Christen etwas von dem chinesischen Philosophen Lao-Tse lernen, der viel über das Nichtstun nachgedacht hat und dem das Zitat zugeschrienen wird: «Im Nichtstun bleibt doch nichts ungetan». Die folgende Kurzerzählung illustriert sehr schön diese in Daoismus und Buddhismus verbreitete Haltung des Loslassens:

Am Strand des Meeres wohnten drei alte Mönche. Sie waren so weise und fromm, dass jeden Tag ein kleines Wunder für sie geschah. Wenn sie nämlich morgens ihre Andacht verrichtet hatten und zum Bade gingen, hängten sie ihre Mäntel in den Wind. Und die Mäntel blieben im Wind schweben, bis die Mönche wiederkamen, um sie zu holen. Eines Tages, als sie sich wieder in den Wellen erfrischten, sahen sie einen grossen Seeadler über das Meer fliegen. Plötzlich stiess er auf das Wasser herunter, und als er sich wieder erhob, hielt er einen zappelnden Fisch im Schnabel. Der eine Mönch sagte: «Böser Vogel!» Da fiel sein Mantel aus dem Wind zur Erde nieder, wo er liegen blieb. Der zweite Mönch sagte: «Du armer Fisch!» Und auch sein Mantel löste sich und fiel auf die Erde. Der dritte Mönch sah dem enteilenden Vogel nach, der den Fisch im Schnabel trug. Er sah ihn kleiner und kleiner werden und endlich im Morgenlicht verschwinden. Der Mönch schwieg und sein Mantel blieb im Winde hängen.

Der dritte Mönch konnte loslassen, geschehen lassen – er hat nicht bewertet und war innerlich frei. Denn bewerten zu wollen ist nichts anderes als kontrollieren zu wollen und solange wir die Kontrolle behalten wollen, sind wir nicht frei. Doch wir müssen nicht unbedingt bis nach China oder Japan. Im Johannesevangelium finden wir einen ähnlichen Weg einer aktiven Untätigkeit: «nachfolgen» heisst hier «bleiben» – bleiben, gedeihen und Früchte bringen, wie die Reben am Weinstock, wie es poetisch in dem 15. Kapitel ausgedrückt wird. Nach dem Johannesevangelium kommen wir als Jüngerinnen und Jünger nur voran, wenn wir in Christus bleiben und seine Worte in uns. Und dies ist allgemein auch der Grund, warum Gott in der Bibel zu uns oft in Gleichnissen spricht: Wir sollten an seinem Wort ein bisschen kauen, sich damit eine Weile beschäftigen, damit es nicht nur den Verstand erreicht, sondern auch das Herz.

Wenn Dir also einen Neuanfang bevorsteht – und das wird im Leben immer wieder der Fall sein –, oder wenn Du einfach neu anfangen willst, lass Dir diesen Neuanfang von Gott schenken, lass Dich von seinem Wort beschützen und tragen. Die Bibel, die ja jede und jeder von uns sehr wahrscheinlich irgendwo zuhause hat, ist eine grosse Samenbibliothek in der es für jede und jeden von uns die passende Saat des Wortes Gottes für das ganze Leben gibt. Bitte also Gott, dass er Dir die passende Saat für Dein Herz schenkt, bewahre es im Herzen, indem Du dieses Wort jeden Tag zu Dir im Gebet aussprichst, und tue nichts – denn die Erde bringt von selbst die Frucht.