Über die Gleichnisrede (Mt 13,1–23)

An jenem Tag verliess Jesus das Haus und setzte sich an das Ufer des Sees. Da versammelte sich eine grosse Menschenmenge um ihn. Er stieg deshalb in ein Boot und setzte sich. Und alle Menschen standen am Ufer. Und er sprach lange zu ihnen in Gleichnissen. Er sagte: Siehe, ein Sämann ging hinaus, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil auf den Weg und die Vögel kamen und frassen es. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und verdorrte, weil sie keine Wurzeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel in die Dornen und die Dornen wuchsen und erstickten die Saat. Ein anderer Teil aber fiel auf guten Boden und brachte Frucht, teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreissigfach. Wer Ohren hat, der höre! (Mt 13,1–9)

Es war einmal ein König, der lebte in einer grossen goldenen Stadt und hatte sechs Söhne…

Wenn ich so beginne, denkt man, heute erzählt er ja ein Märchen. Denn jeder von uns hat schon als Kind Märchen gehört oder sie den Kindern oder Enkelkindern vorgelesen. Deswegen erkennt man auch gleich den typischen Anfang mit dem «Es war einmal…» und die für das Märchen typische Sprache.

Und so ähnlich geht es auch vielen Menschen, die nicht mit der Bibel vertraut sind und irgendwann einen Abschnitt hören, wie zum Beispiel das berühmte Gleichnis vom Sämann (Mt 13,1–23 par). Es hört sich in ihren Ohren einfach wie ein Märchen an.

Doch was passiert, wenn ich Ihnen nun verraten würde, dass dieser König, der in einer goldenen Stadt lebte, Karl IV. (1316–1378) hiess, der römischer Kaiser und der König von Böhmen war, und dass man die Hauptstadt Prag seit seiner Zeit als die «goldene Stadt» bezeichnet. Plötzlich wäre es kein Märchen mehr, sondern eine wahre Geschichte, die sich aus irgendeinem Grund als Märchen verkleidet. Doch warum sollte sich eine wahre Geschichte als Märchen verkleiden, oder, wie in unserem Fall: Warum sollte man die Wahrheit mit Hilfe von Bildern und Gleichnissen verschlüsseln?

Und das haben sich auch die Jünger gefragt, nachdem sie das Gleichnis Jesu gehört haben. Und eigentlich jeder, der die Bibel liest, fragt sich irgendwann, warum Gott zu uns nicht einfach Klartext spricht. Warum müssen die religiösen Texte immer aus lauter rätselhaften Bildern bestehen? Denn Gott will ja, dass wir ihn verstehen und sein Wort bei uns ankommt und in uns wirkt, oder nicht? Wie auch immer, in diesem Fall haben wir Glück: Es ist eine von den wenigen Stellen, wo uns die Bibel auch die Pointe des Gleichnisses verrät und darüber hinaus sogar noch der Frage nachgeht, warum Gott zu uns in Rätseln spricht (V.10–23):

Da traten die Jünger zu ihm und sagten: Warum redest du zu ihnen in Gleichnissen? Er antwortete ihnen: Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu verstehen; ihnen aber ist es nicht gegeben. Denn wer hat, dem wird gegeben und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen und hören und doch nicht hören und nicht verstehen. An ihnen erfüllt sich das Prophetenwort Jesájas: «Hören sollt ihr, hören und doch nicht verstehen; sehen sollt ihr, sehen und doch nicht einsehen. Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden. Mit ihren Ohren hören sie schwer und ihre Augen verschliessen sie, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören und mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen und sich bekehren und ich sie heile». Eure Augen aber sind selig, weil sie sehen, und eure Ohren, weil sie hören. Denn, amen, ich sage euch: Viele Propheten und Gerechte haben sich danach gesehnt zu sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, und zu hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört. Ihr also, hört, was das Gleichnis vom Sämann bedeutet. Zu jedem Menschen, der das Wort vom Reich hört und es nicht versteht, kommt der Böse und nimmt weg, was diesem Menschen ins Herz gesät wurde; bei diesem ist der Samen auf den Weg gefallen. Auf felsigen Boden ist der Samen bei dem gefallen, der das Wort hört und sofort freudig aufnimmt; er hat aber keine Wurzeln, sondern ist unbeständig; sobald er um des Wortes willen bedrängt oder verfolgt wird, kommt er sofort zu Fall. In die Dornen ist der Samen bei dem gefallen, der das Wort hört, und die Sorgen dieser Welt und der trügerische Reichtum ersticken es und es bleibt ohne Frucht. Auf guten Boden ist der Samen bei dem gesät, der das Wort hört und es auch versteht; er bringt Frucht – hundertfach oder sechzigfach oder dreissigfach. (Mt 13,10–23)

Es gibt mehrere Gründe, warum Gott zu uns in Gleichnissen spricht. Der Hauptgrund liegt aber darin, dass wir sein Wort nicht mit dem Kopf empfangen sollten, sondern mit dem Herzen. Denn nur so kann das Wort in unserem Leben etwas bewirken. Das Herz ist die Quelle des Lebens und wenn wir unser Leben ändern wollen, müssen wir dort beginnen. Es kann natürlich helfen, wenn wir auch die äusserlichen Umstände ändern. Das sagt ja das Sämannsgleichnis auch. Denn auch wenn das Wort in unserem Herzen ankommt, haben wir noch nicht gewonnen: In dem einen Fall war es der «felsige Boden», also die «Unbeständigkeit» des Menschen, die das Wort daran gehindert hat Wurzeln zu schlagen. In dem anderen Fall waren es wiederum die «Dornen», also «die Sorgen dieser Welt und der trügerische Reichtum», die das Wort Gottes erstickt haben, sodass es ohne Frucht blieb. Die äusserlichen Umstände spielen also durchaus eine Rolle und ein geschützter Raum für das Gebet ist für das geistliche Leben unerlässlich.

Eine nachhaltige Änderung geschieht in unserem Leben aber nur dann, wenn das Wort wirken kann. Anders mühen wir uns sogar beim Gebet vergeblich ab, wie es anderswo steht:

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. (Mt 6,7)

Denn, wenn das Wort in unserem Leben nichts bewirken kann, schleppen wir nur die alten Probleme mit uns herum und werden von ihnen irgendwann wieder eingeholt. Damit das Wort aber überhaupt wirken kann, müssen wir es verstehen. Das Verstehen ist hier fundamental. Es ist also nicht so, dass wir bei der Bibellektüre den Kopf abschalten sollten. Es ist aber eine andere Art des Verstehens als die, die wir aus der Schule, dem Berufsleben oder der Wissenschaft kennen. Es ist eine Art des Verstehens, die vielmehr an eine Art der Offenbarung erinnert, und das hat einen Grund.

Die (profanen) Texte, mit denen wir im Alltag zu tun haben, beschäftigen sich mit Tatsachen, die wir entweder direkt kennen oder aufgrund unserer Erfahrung gut nachvollziehen können. Ich war zum Beispiel nie in Australien, dennoch kann ich einem Buch, das die Flora und Fauna Australiens schildert, relativ gut folgen, auch wenn es bei uns nicht so merkwürdige Tiere wie ein Känguru oder ein Schnabeltier gibt. Stellen Sie sich aber eine Situation vor, in der jemand, der im ersten Jahrhundert nach Christus in Ägypten lebt, eine Kurzanleitung für das neueste iPhone in die Hand bekommt, mit all den schönen Bildern und Piktogrammen, die die verschiedenen Funktionen und Netzwerkprotokolle erklären. Ich bin mir sicher, er könnte damit nichts anfangen und würde es bestenfalls für einen seltsamen magischen Text halten. Denn, wie Arthur C. Clarke einmal geschrieben hat:

Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic. [Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden]. (1973, 36)

Und in einer solchen Situation befinden uns heute wir, wenn wir mit religiösen Texten aus dem ersten Jahrhundert zu tun haben, die über die himmlische Welt, ihre Engelhierarchie und den Glauben daran erzählen. Mit vielen von diesen Texten können im Grunde nur ein paar Fachleute nach einem langen Studium etwas anfangen.

Das Neue Testament scheint aber nicht zu diesen antiken Texten zu gehören, sonst würden wir es nicht an jedem Sonntag lesen. Und der Grund dafür ist zugleich auch der Grund für die Gleichnisrede und der Schlüssel zu ihrem Verständnis: Es ist der gleiche Geist und die gleiche Erfahrung des Glaubens, die uns ermöglichen diesen Text fast nach zwei Jahrtausenden zu verstehen. Wir machen dieselbe Erfahrung mit Gott, wie die Christen im ersten Jahrhundert. Und auf diese Erfahrung können wir, ja müssen wir, bei der Bibellektüre zurückgreifen, wenn wir die biblischen Bilder und Gleichnisse verstehen wollen. Die Bibel ist, wie ein Kunstwerk, mit der poetischen Sprache verschlüsselt. Und wenn wir diese Sprache entschlüsseln wollen, brauchen wir als Schlüssel den Glauben – genauso, wie wir bei den Kunstwerken beispielsweise die Erfahrung der Farben, Formen oder der Harmonie brauchen. Deswegen sagt Jesus zu seinen Jüngern und auch zu uns:

Euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu verstehen; ihnen aber ist es nicht gegeben. Denn wer hat, dem wird gegeben und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. (Mt 13,11–12)

Nur wenn wir haben, wird uns gegeben: Nur wer das Fundament des Glaubens bereits gelegt hat, kann das Haus bauen. Um die Bibel zu verstehen, müssen wir sie Leben. Und zwar Schritt für Schritt und das magische Wort heisst dabei anfangen.

Denn das meiste, worüber dieses Buch erzählt, ist nicht aus dieser Welt. Durch das Wort, das in unserem Herzen wirkt, kann es aber nach und nach zur Wirklichkeit in dieser Welt werden. Das Wort schafft Neues und so erfüllt sich in unserem Leben das, was wir jeden Tag im Gebet erbitten: «Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf der Erde» (Mt 6,10).

Gürten wir uns also
mit Glauben und Treue im Guten,
und gehen wir unter der Führung des Evangeliums
seine Wege,
damit wir ihn schauen dürfen,
der uns in sein Reich gerufen hat. (Benediktregel, Prolog 21)