Ihr seid Götter (Joh 10,22–39)

Um diese Zeit fand in Jerusalem das Tempelweihfest statt. Es war Winter und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomos auf und ab. Da umringten ihn die Juden und fragten ihn: Wie lange hältst du uns noch hin? Wenn du der Christus bist, sag es uns offen! Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab; ihr aber glaubt nicht, weil ihr nicht zu meinen Schafen gehört. Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir. Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen und niemand wird sie meiner Hand entreißen. Mein Vater, der sie mir gab, ist größer als alle und niemand kann sie der Hand meines Vaters entreißen. Ich und der Vater sind eins. Da hoben die Juden wiederum Steine auf, um ihn zu steinigen. Jesus hielt ihnen entgegen: Viele gute Werke habe ich im Auftrag des Vaters vor euren Augen getan. Für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen? Die Juden antworteten ihm: Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott. Jesus erwiderte ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: «Ich habe gesagt: Ihr seid Götter» (Ps 82,6)? Wenn er jene Menschen Götter genannt hat, an die das Wort Gottes ergangen ist, und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann, dürft ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott – weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn? Wenn ich nicht die Werke meines Vaters vollbringe, dann glaubt mir nicht! Aber wenn ich sie vollbringe, dann glaubt wenigstens den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt! Dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin. Wieder suchten sie ihn festzunehmen; er aber entzog sich ihrem Zugriff. (Joh 10,22–39)

Jedes Jahr um Mariä Himmelfahrt feiern wir in der «Kirche unserer lieben Frau zu Scherzlingen» den Kirchweihgottesdienst. Das ist nicht gerade reformiert, könnte man meinen, noch mit einer Marienstatue gleich hier vorne. Ist das nicht sogar Gotteslästerung oder Aberglaube, wenn wir hier als Reformierte diese Statue aufstellen und dazu noch ein Gebet sprechen? Schaffen wir hier damit etwa nicht noch andere Götter oder Götzen neben dem einen wahren Gott?

Und ja, – falsch verstanden –, könnte es tatsächlich der Fall sein, denn ein missverstandener Glaube wird sehr schnell zum Aberglauben, indem wir etwas tun ohne zu wissen was wir tun – wir tun es aber dennoch, meistens aus Angst vor dem Göttlichen. Und für viele Reformierte wären früher schon die schönen Fresken hier in der Kirche oder die brennende Osterkerze ein Problem gewesen. Sind wir also gleichgültiger geworden und verfallen wir wieder den ‹katholischen› Bräuchen? Und was würden dazu die grossen Reformatoren heute sagen?

Von dem grossen deutschen Reformator Dr. Martin Luther ist jedenfalls folgendes Gebet erhalten geblieben:

O selige Jungfrau und Mutter Gottes,
wie bist du so gar nichts
und gering geachtet gewesen,
und Gott hat dich dennoch so überaus gnädig
und reichlich angesehen
und große Dinge an dir gewirkt.
Du bist ja deren keineswegs wert gewesen
und weit und hoch über all dein Verdienst hinaus
ist die reiche, überschwängliche
Gnade Gottes in dir.
O wohl dir, selig bist du
von der Stund an bis in Ewigkeit,
die du einen solchen Gott gefunden hast!

War der grosse Reformator also doch nicht so reformiert, wie wir dachten? Nein, er war durchaus reformiert, denn er wusste, was er sagt. Das Problem mit den meisten katholischen Bräuchen liegt nämlich vor allem darin, dass sie so viele und so komplex geworden sind, dass viele Menschen sie nicht mehr nachvollziehen können, und das führt zum Aberglauben. Doch, wenn ich weiss, was ich tue, dann kann ich auch als ein reformierter Christ hier in der Kirche eine Kerze vor der Marienstatue anzünden und ein Gebet sprechen. Jedenfalls ist es weniger radikal als das, was uns das heutige Evangelium erzählt.

Es geschah beim Tempelweihfest in Jerusalem. Das ist ein Lichtfest, das an die Wiedereinweihung des Jerusalemer Tempels im Jahre 164 v.Chr. erinnert und das noch heutzutage gefeiert wird – man kennt es unter dem Namen Chanukka und es fällt fast mit unserem Weihnachtsfest zusammen. Nach dem Johannesevangelium hielt sich damals Jesus im Tempel auf und verunsicherte seine Zeitgenossen. Sie wollten wissen, ob er der Christus sei, sie wollten endlich eine klare Antwort haben. Und diese haben sie auch bekommen, indem ihnen Jesus gesagt hat: «Ich und der Vater sind eins» (V.30). Diese Antwort hat der Menge im Tempel aber gar nicht gefallen und so hoben sie Steine auf, um ihn zu steinigen (V.31), denn das war für sie eindeutig eine Gotteslästerung. Er sagt ja, er ist Gottes Sohn!

Es ist oft so, dass wir uns nach Gott und seiner Nähe sehnen oder eine Antwort von ihm wollen, wenn wir sie dann aber bekommen, trifft es uns ganz unvorbereitet und es ist viel gewaltiger als wir uns gedacht haben. Wir wollten ein paar Tröpfchen Gnade im Alltag haben, die Gnade kommt aber wie ein gewaltiger Fluss, der alles in unserem Leben durcheinander wirbelt. Denn Gott ist viel radikaler als wir uns es vorstellen können und als es uns oft lieb ist. Wie auch die Antwort Jesu im Johannesevangelium.

Es heisst in Vers 34: «Jesus erwiderte ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter?». Und die Antwort ist natürlich: «Ja». Denn es ist ein Zitat aus dem 82. Psalm. Und wie die Zuhörer Jesu, werden auch wir mit seiner Antwort herausgefordert. Denn auch wir sind nach Aussage der Schrift Götter. Also «Guten Morgen, liebe Göttinnen und Götter!». Nun stimmen Sie mir vielleicht zu, dass diese Vorstellung ganz radikal ist. Und jetzt kann man auch besser verstehen, warum die frommen Juden nach Steinen greifen. Doch: Muss man diesen radikalen Vers, der in der Schrift steht, so überspitzt verstehen, und ist es überhaupt richtig ihn so zu verstehen? Ja, es ist zweifelsohne richtig so. Denn auch die anderen Aussagen im Neuen Testament, wie: Ihr seid «Kinder Gottes» (Gal 3,26), oder: Ihr seid ein «Tempel Gottes» (1Kor 3,16), meinen nichts anderes.

Was uns in dieser Geschichte im Johannesevangelium allerdings unterschlagen wurde, ist die Tatsache, dass dieser Vers aus dem 82. Psalm eine kleine Fortsetzung hat. Ich lese also nun auch die zweite Hälfte dieser kühnen Aussage vor:

Ich habe gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten. Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, sollt stürzen wie einer der Fürsten. (Ps 82,6–7)

Ah ja, und jetzt haben wir es: Wir sind zwar «Götter», und Götter sind von Natur aus unsterblich, wir sind aber offensichtlich der Sterblichkeit unterworfen.

Das bedeutet nichts anderes als den Fall der Menschheit, über den schon das Buch Genesis spricht. Deswegen heisst es in diesem Vers (V.7) auch: Ihr «sollt stürzen wie einer der Fürsten», also einer der Erzengel, den man später eher unter dem Namen «Luzifer» oder «Satan» kennt. Hat der Evangelist Johannes also gemauschelt als er diese Geschichte geschrieben hat und die negative Aussage weggelassen hat? Natürlich nicht! Denn in Christus wurde uns die alte Würde zurückgegeben und es wurde uns das ewige Leben geschenkt. Wir sind zwar dem Tod unterworfen worden, in Christus stehen wir aber wieder auf. Im Neuen Testament, oder besagt gleich nach Ostern, gilt also in der Tat nur der erste Vers (V.6) aus dem 82. Psalm: «Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten». Das ist unsere wahre Natur und unsere wahre Bestimmung und es hängt nur von uns ab, ob wir sie wahrnehmen oder nicht.

Und von diesem Hintergrund her ist es auch kein Aberglaube, wenn wir als reformierte Christen Mariä Himmelfahrt feiern. Es ist vielmehr so, wie der katholische Theologe Burkhard Menke schreibt: «Mariä Himmelfahrt ist die Demokratisierung von Ostern». Denn Maria ist nicht mehr oder weniger göttlich als wir es sind, sie ist uns in der Zeit nur ein Schritt voraus. Und bei Mariä Himmelfahrt feiern wir nichts anderes als die Macht der Auferstehung Christi, die uns alle berührt und lebendig macht. Und in dem himmlischen Glanz der Madonna spiegelt sich nur die Herrlichkeit Christi wider, die auch uns zuteil wird. Und bis dahin ist uns Maria ein Wegweiser auf unserem irdischen Weg zu Christus, wie es der Dichter Andreas Knapp in einem Gedicht, mit dem ich hier nun abschliessen werde, schön in Worte fasst:

Madonna

in der Schwerelosigkeit
kindlicher Unschuld
als erste der Menschen
den Fuss auf den Mond gesetzt

umgeben vom Sternenkranz
leuchtender Kerzen
in jeder Flamme
brennt eine Träne

bedrängt von der Ohnmacht
so vieler Bittsteller
zeigst du als Antwort
auf dein nacktes Kind.