Vom Gottesdienst (Lk 4,14–21)

Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt (Lk 4,21).

Es war ein ganz normaler Samstag in einem kleinen Dörfchen namens Nazaret, nicht weit von dem schönen am See gelegenen Tiberias, das seit einigen Jahren die neue Hauptstadt Galiläas war. Im griechisch-römischen Stil aufgebaut – mit Palästen, einem Theater und Forum und einfach allem, was eine neue moderne Hauptstadt braucht. Und wie an jedem Samstag kommen Menschen zum Gottesdienst, wo heute auch Jesus, der Sohn des Zimmermanns Josef, zu Besuch ist. Man habe gehört, dass er jetzt nicht mehr seinem Vater im Geschäft hilft, sondern in der Gegend als Wanderprediger unterwegs sei, und mache sich dabei gar nicht so schlecht. Und so ist man ein bisschen neugierig, was er zu sagen hat, hier in seinem Heimatort. Und ja, er hat einen sehr schönen Text aus dem Buch Jesaja ausgewählt (Jes 61,1–2a):

Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.

Und auch die Predigt beginnt nicht schlecht:

Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.

Das hört man immer gerne. Ein bisschen Balsam für die Seele, etwas Aufmunterung nach dem harten Alltag.

Und würden wir bei Lukas weiterlesen, würden wir feststellen, dass die Predigt wohl sehr gut war. Sogar so gut, dass man sich wundert, woher das dieser junge Zimmermann hat: «Sie staunten über die Worte der Gnade, die aus seinem Mund hervorgingen, und sagten: Ist das nicht Josefs Sohn?» (Lk 4,22). Doch irgendwann kippt die Stimmung im Gottesdienst und am Ende schreibt Lukas: «Als die Leute in der Synagoge das hörten, gerieten sie alle in Wut. Sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus; sie brachten ihn an den Abhang des Berges, auf dem ihre Stadt erbaut war, und wollten ihn hinabstürzen» (Lk 4,28–29). Der Prediger Jesus konnte sich natürlich retten, es ist aber bestimmt nicht die Reaktion, die man sich im Gottesdienst nach der Predigt wünscht. Was hat die Leute so aufgebracht? Was hat er gesagt?

Es war eine einfache Redewendung: «Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt» (Lk 4,24). Und er bringt noch einige Beispiele dazu, von denen ich hier nur ein zitiere: «Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine grosse Hungersnot über das ganze Land kam. Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon» (Lk 4,25–26). Nun wird es also langsam klarer:

  1. Erstens macht sich der Prediger zu einem Propheten und stellt sich mit dem berühmten Elija auf eine Ebene;
  2. Zweitens bringt er noch Geschichte, wo Gott ausgerechnet nicht dem von der Hungersnot geplagten Volk Gottes hilft, sondern einer fremden Witwe. Als ob er damit sagen wolle: ‹Die Worte der Gnade, die ich hier predige, das ist nichts für euch›.

Jetzt kann man also die heftige Reaktion der Leute ein bisschen besser verstehen, allerdings bleibt die Frage offen, warum Jesus so etwas tut? Die Predigt hat doch so gut angefangen und er hätte nun auch in seinem Heimatort die Lobbeeren als Prediger ernten können und seine Eltern ein bisschen stolz machen. Stattdessen so ein Eklat.

Der Schlüssel zum Verständnis dessen, was an diesem Samstag in Nazaret geschehen ist, liegt meines Erachtens in dem ersten Satz seiner Predigt:

Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.

Ich denke, irgendwann hat Jesus gemerkt, dass seine «Worte der Gnade», die er predigt, bei den Zuhörern gar nicht wirklich ankommen bzw. nicht so, wie sie sollten. Die Leute finden seine Worte schön, sie bringen ihnen Freude – keine Frage –, aber seine Predigt kann hier nichts bewirken, zumal die Leute auch nichts erwarten. Was sollte man auch von einem normalen Gottesdienst mit einem Zimmermann als Prediger erwarten? Ein bisschen Freude und Aufmunterung und etwas geistige Nahrung für den Alltag ist schon sehr viel Wert. Was will man also mehr? Und ich würde auch sagen: Ich bin als Prediger glücklich, wenn ich am Sonntag ein paar Menschen glücklich machen kann.

Doch Jesus will hier offensichtlich mehr. Er meint den Satz «heute hat sich das Wort erfüllt» wörtlich: Das Gnadenjahr des Herrn ist da, das Königreich Gottes kommt, die Blinden werden sehen usw. Was alle seit Generationen erwarten, soll sich jetzt endlich erfüllen – auch in dem Dörfchen in der Nähe von Tiberias, an einem Samstag, in einem ganz normalen Gottesdienst. Und das ist eben das, was viele nicht erwarten, und ich würde wagen zu sagen: ja, auch nicht wirklich wollen. Denn das würde alles verändern, alles durcheinander bringen, und dann müssten wir uns auch verändern und das wiederum würde unser geordnetes Leben durcheinander bringen. Und das will im Grunde niemand, vor allem dann nicht, wenn alles einigermassen gut läuft. Dabei ist es eigentlich unverständlich. Es erinnert mich an eine Szene aus dem Film Heaven Is for Real (Den Himmel gibt’s echt) aus dem Jahr 2014. Hier hat der vierjährige Sohn eines Pfarrers während einer Notoperation eine Nahtoderfahrung gemacht und darf dabei mit Jesus einen Blick in den Himmel werfen. Nach seinem Aufwachen erzählt er irgendwann alles seinen Eltern. Diese halten es natürlich zuerst für die Fantasien eines Vierjährigen, doch als sie feststellen, dass er auch Sachen weisst, die er eigentlich gar nicht wissen kann, ist für sie klar, dass es eine echte Erfahrung war und sein Vater erzählt alles von der Kanzel. Was folgt, erinnert schon sehr an den Gottesdienst in Nazaret, denn der Vater, der bisher als Pfarrer sehr beliebt war, verliert fast seine Stelle. Ja, den Himmel gibt es, aber so wirklich und nahe wollen wir ihn auch nicht haben.

So sind wir Menschen. Deswegen braucht es in unserem Leben und in der Kirche immer wieder eine ‹Re-Formation›, das heisst eine ‹Wiederherstellung und Erneuerung› des Geistes. Das Buch Nehemia, aus dem wir am Anfang gelesen haben (Neh 8,2–10), erzählt eine solche Geschichte der Erneuerung. Nach der Rückkehr aus dem Exil wird von dem Priester Esra in der Versammlung vom frühen Morgen bis zum Mittag das Gesetz vorgelesen – ein Buch, das alle kennen; Worte, die sie schon bestimmt gehört haben. Doch nun lauschen sie nicht nur mit offenen Ohren, sondern auch mit offenen Herzen und erlauben sie dem Wort zu wirken. Und das Wort wirkt, so dass Esra und Nehemia die Leute beruhigen müssen: «Seid nicht traurig, und weint nicht! Alle Leute weinten nämlich, als sie die Worte des Gesetzes hörten» (Neh 8,9).

Wenn wir uns dem Wort Gottes öffnen, wird es das bewirken, was es verspricht, denn es ist ein schöpferisches Wort: aus ihm ist die ganze Welt um uns herum entstanden und es wirkt in ihr auch weiter. Denn – und auch das steht in diesem von Jesus zitierten Buch Jesaja (Jes 55,10–11):

Wie der Regen und der Schnee vom Himmel fällt
und nicht dorthin zurückkehrt, ohne die Erde zu tränken
und sie zum Keimen und Sprossen zu bringen, […]
so ist es auch mit dem Wort, das meinen Mund verlässt:
Es kehrt nicht leer zu mir zurück,
ohne zu bewirken, was ich will,
und das zu erreichen, wozu ich es ausgesandt habe.

Das Wort wird es aber nur dann bewirken, wenn wir es ihm erlauben. Und dies braucht auf unsere Seite vor allem eine Erwartung, dass es möglich ist, auch in einem normalen Gottesdienst am Sonntag Abend. Die Benediktinerin Charis Doepgen fast diese Einstellung in folgendem kurzen Gedicht schön zusammen:

Immer noch

Das Wort finden
das mein Leben deutet —
es ist schon geschrieben
Gereicht wird es mir im Gottesdienst —
bin ich darauf gefasst
dass es immer noch geschieht?

Ja, sind wir darauf gefasst, an einem Sonntag Abend? Wenn ja, dann werden wir nämlich etwas entdecken, was den Zuhörern in Nazaret verborgen blieb:

  • dass wir die Armen sind, die eine gute Nachricht zu hören brauchen;
  • dass wir die Gefangenen sind, die sich nach der Entlassung sehnen, aus den Zwängen des eigenen Charakters und aus dem Gefängnis, das wir uns im Alltag immer wieder aufbauen;
  • dass wir die Blinden sind, die die Perspektive und die Unterscheidung, was im Leben wirklich wichtig ist, verloren haben;
  • und dass wir die Zerschlagenen sind, die Jesus heute in die Freiheit der Kinder Gottes setzen will.

Und wenn wir all das entdeckt haben, dann stellen wir fest, dass für uns das Gnadenjahr des Herrn ausgerufen wurde.