Elija ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod. Er sagte: Nun ist es genug, HERR. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter. Dann legte er sich unter den Ginsterstrauch und schlief ein. Doch ein Engel rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Als er um sich blickte, sah er neben seinem Kopf Brot, das in glühender Asche gebacken war, und einen Krug mit Wasser. Er ass und trank und legte sich wieder hin. Doch der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Sonst ist der Weg zu weit für dich. Da stand er auf, ass und trank und wanderte, durch diese Speise gestärkt, vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb. (1Könige 19,4–18)
Sich allein in die Wüste zu begeben kann lebensgefährlich sein. Man kann zwischen den Dünen leicht die Orientierung verlieren, verdursten, oder von einem Sandsturm überrascht werden. Und auch wenn nichts davon passiert und man genug an Wasser und Vorräten hat, drückt die Einsamkeit auf die Seele. Denn ein Mensch braucht andere Menschen, um glücklich zu sein. Und doch gibt es in der Geschichte immer Menschen, die sich (mehr oder weniger freiwillig) in die Wüste begeben, wie zum Beispiel der Prophet Elija (1Könige 19,4), Johannes der Täufer (Mk 1,4), Jesus (Mk 1,12), oder die ersten christlichen Mönche in Ägypten, die man aus diesem Grund eben auch die «Wüstenväter» nennt. Warum tut man aber so etwas?
Einige von ihnen, wie der Prophet Elija, werden dazu gezwungen und fliehen in die Wüste, um das eigene Leben zu retten. Andere wiederum begeben sich in die Wüste, um sich zu befreien und die Seele für die Ewigkeit zu retten. Doch sie alle begegnen in dieser tödlichen ‹Wüste der Einsamkeit› Gott. Das ist die fundamentale Erfahrung aller Religionen – es ist eine Erfahrung, die sowohl der christliche als auch der buddhistische Mönch kennt. Denn wie der bekannte deutsch-amerikanische Theologe Paul Tillich schreibt:
Religion ist das, was jeder mit seiner Einsamkeit anfängt.
Und wie Catherine de Hueck Doherty richtig bemerkt: «Wüste, Stille, Einsamkeit sind nicht notwendigerweise Orte, sondern Zustände des Geistes und des Herzens. Die Wüste kann man mitten in der Grossstadt im täglichen Leben jedes Menschen finden». Der Theologe Paul Tillich unterscheidet hier drei Arten der Einsamkeit: «die äussere Einsamkeit, die innere Einsamkeit und die vollkommene Einsamkeit vor Gott, die uns zugleich tötet und lebendig macht». Die äussere Einsamkeit erfahren wir, wenn wir von anderen Menschen isoliert sind und niemanden haben, der mit uns das Leben teilt. Doch man kann auch inmitten von Menschen einsam sein. Das ist die innere Einsamkeit. Die vollkommene Einsamkeit tritt dann ein, wenn Gott schweigt. Und wie Paul Tillich schreibt: «Wir rufen und sehnen uns und wollen mit ihm reden und ihn umfassen und auf ihn hören und in ihm wohnen, um nicht mehr einsam zu sein in Ewigkeit. Aber aus dem Antlitz des Ewigen antwortet Schweigen, und wir sinken nieder und brechen zusammen, vernichtet von dieser furchtbaren Einsamkeit».
Im Frühling dieses Jahres wurden auch wir in die ‹Wüste› geschickt: Am Dienstag vor dem Aschermittwoch wurde die Schweiz von der Pandemie Covid-19 erreicht, die uns in die Wüste von «Social Distancing» geschickt hat und uns eine soziale Fastenzeit verordnet. Und so erleben jetzt viele Christen hautnah das, was die Wüstenväter in Ägypten erlebt haben: In der Stille der Einsamkeit werden die inneren Stimmen, die man im rastlosen Alltag kaum hört, sehr viel lauter. Und oft geben sich diese Stimmen sogar als dämonische Bestien aus, die einen zu zerreissen drohen, wenn man sich mit ihnen anlegt. Und auch die innere Einsamkeit, die jeder Mensch in sich trägt, vertieft sich in dieser Wüste und droht zu einem tiefen Brunnen zu werden, in den man fällt, wenn man sich an nichts festhalten kann. Und so hält man sich an allem, was einem noch Halt geben kann, und verbringt die Zeit in den kleinen Oasen dessen, was noch erlaubt und möglich ist. Man balanciert also am Rand von diesem Brunnen und hält mit einem kleinen Lagerfeuer des Gebets die Bestien in Schach. Und so kann man in dieser Wüste bestimmt überleben bis eines Tages alles vorbei ist und man hofft, dass dieser Tag möglichst bald kommt. Doch all das kostet viel Kraft und löst das grosse Problem nicht: Die tödliche ‹Wüste der Einsamkeit› bleibt nach wie vor eine Bedrohung und wartet nur auf die nächste Krise in unserem Leben, die bestimmt kommen wird. Was ist also die Lösung? In meinen Augen ist es der alte Weg der Wüstenväter.
Ich höre auf mich an Sachen zu klammern, die mir noch übrig geblieben sind und begebe mich noch tiefer in diese Wüste. So weit bis wirklich alles still ist, ja auch die Stimme Gottes, und das Alte in mir zerbricht, sodass ich wie Elija sagen kann: «Nun ist es genug, HERR. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter» (1Könige 19,4). Denn das Osterevangelium lehrt uns: Nur, wenn der alte Mensch in uns stirbt, kann ein neuer Mensch in uns geboren werden. Und nach dieser Wiedergeburt ist die Wüste keine Bedrohung mehr, sondern sie wird zum Ort des Heils und des neuen Lebens, wie es bei Jesaja so schön heisst:
Wie Eden hat er ihre Wüste gemacht und ihre Steppe wie den Garten des HERRN! (Jesaja 51,3)
Die Wüste, die uns jetzt auferlegt wurde, ist also eine Chance zum Neuanfang, eine Chance jede Art der Einsamkeit zu besiegen. Denn in Christus ist Gott Mensch geworden, um mit seinen Menschen für immer zu sein: «Ob in der Wüste der äusseren Einsamkeit, er ist bei ihnen, der einsam kämpfte in der Wüste (Mt 4,1–11), ob in dem Zittern der inneren Einsamkeit, er ist bei ihnen, der einsam kämpfte, da alle ihn verliessen (Lk 22,39–46), ob in der Verzweiflung der gottverlassenen Einsamkeit, er ist mit ihnen, den Gott verliess in der Einsamkeit am Kreuz (Mk 15,33–41). Ob sie es wissen oder nicht, er ist bei ihnen. Der es aber weiss, der ist nimmermehr einsam, sondern zweisam, sondern eins mit Gott» (Paul Tillich).