Das Kreuz des Lebens (Joh 19,34)

Einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus. (Joh 19,34)

Den meisten von uns fällt es wahrscheinlich nicht schwer den Karfreitag zu feiern, dabei ist es ein grausamer Tag. Doch wir kennen das Ende der Geschichte und wissen, dass es ein Happy End gibt. Denn am Ostersonntag wird das Grab leer sein und der Gekreuzigte erscheint als der Auferstandene seinen Freundinnen und Freunden, die ihn begleitet und an ihn geglaubt haben. Ohne dieses Wissen würde unser Osterfest allerdings ganz anders aussehen und vielleicht würden wir es gar nicht feiern. Bestenfalls würde man wohl den charismatischen «Rabbi Jeschua» erinnern, der viel Gutes getan hatte und doch ohne Grund von dem römischen Präfekten Pontius Pilatus gekreuzigt wurde. Doch das würde wohl nicht den Lauf der Geschichte ändern, denn dieser «Jeschua» war zweifelsohne nicht der Erste und auch nicht der Letzte, der von den Mächtigen dieser Welt ermordet wurde.

Aber wir sind heute da und feiern freudig seinen Tod. Das ist eigentlich eine verrückte Geschichte. Das war sie aber schon immer. Denn wie schon der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt:

Das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit. (1Kor 1,18a)

Und er bemerkt dazu fragend:

Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten. (1Kor 1,20b–21)

Diese verrückte Geschichte war also vom Anfang an so geplant.

Und es waren nicht die religiösen Lehrer und Wissenschaftler der Zeit, die den Lauf der Geschichte geändert haben, sondern der Sohn eines Zimmermanns aus Nazaret. Und es war nicht so, dass dieser talentierte Junge zuerst bei einer anerkannten Autorität studiert hätte, um danach einige berühmte Schriften zu verfassen. Vielmehr sieht es so aus, dass er um die 30 Jahre seines Lebens nichts tat, was von Bedeutung wäre. Erst später wurde er ein Anhänger eines umstrittenen Wüstenpredigers namens Johannes, (der übrigens auch hingerichtet wurde), und erst Jahrzehnte nach seinem Tod haben seine Anhänger Schriften verfasst, die wir «Evangelien» nennen – also «Good News», und erst diese haben ihn bekannt gemacht. Heute würde man sagen: ein gelungenes Marketing, mit dem man sogar aus dem Tod noch Kapital schlagen kann. Und die gebildete Elite der damaligen Zeit hat auch so reagiert und war (gering gesagt) sehr ‹zurückhaltend›, was diesen neuen ‹Glauben› betrifft. In Athen auf dem Aeropag – in der ‹philosophischen Arena› der damaligen Zeit – hat man später den Apostel Paulus auch ausgebuht, als er versucht hat, dort für diese neue Lehre zu werben (Apg 17,16–32).

Doch irgendwann haben genügend Menschen mit dieser verrückten Lehre aus Palästina eine Erfahrung gemacht und haben festgestellt, dass sie diesem angeblich toten Jesus in ihrem Leben begegnen können, sodass man sogar sagen muss, dass er nicht tot, sondern lebendig ist. Und heute feiern über zwei Milliarden Menschen auf der ganzen Welt seinen Tod und seine Auferstehung. Ich denke, das ist nur deswegen möglich, weil wir unabhängig von Zeit und Raum die Erfahrung der ersten Jüngerinnen und Jünger wiederholen können. Denn der Auferstandene lädt uns zu dieser Erfahrung immer wieder ein und das noch nach fast zweitausend Jahren. Doch wir sollten ihm nicht einfach glauben, weil es die Kirche oder jemand anderer sagt. Denn wir sollten selbst eine Erfahrung machen und schauen, ob es etwas taugt und ob es auch etwas für uns ist. Denn dieser Jesus sagt im Johannesevangelium zu seinen Jüngern: «Kommt und seht!» (Joh 1,39); wie es schon im 34. Psalm heisst: «Kostet und seht, wie gut der Herr ist!», oder wie es die Zürcher Bibel übersetzt: «Spürt und seht, wie gütig der Herr ist» (Ps 34,9). Wir sollten etwas «spüren» und nicht einfach leer ausgehen. Denn es ist legitim, eigene Erfahrung machen zu wollen.

Deswegen haben wir auch Sakramente, wie das Abendmahl oder die Taufe, die der Evangelist Johannes in seiner Kreuzigungsszene symbolisch festhält, wenn er schreibt:

Einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus. (Joh 19,34)

Wir sollten spüren, und zwar mit allen Sinnen und nicht nur im Kopf glauben.

Wenn uns Christus zum Tisch einlädt und zu uns beim Abendmahlskelch sagt: «Tut dies zu meinem Gedächtnis!» (Lk 22,19), dann ist es eben eine Einladung zu dieser Erfahrung und das betrifft auch das Kreuz und den Tod. Denn wir sollten seinen Spuren in dieser Welt folgen, wenn wir dort ankommen wollen, wo er ist. Der deutsche Mystiker Thomas von Kempen, der das kleine, aber gewichtige Buch mit dem Titel «Die Nachfolge Christi» geschrieben hat (lat. De imitatione Christi), hält es schön gleich in seinem ersten Kapitel fest, wo er schreibt:

Wer mir nachfolgt, wandelt nicht im Dunkel, spricht der Herr (Joh 8,12). Das sind Worte Christi. Sie spornen uns an, sein Leben und seinen Wandel nachzuahmen, wenn wir wahrhaft erleuchtet und von aller Blindheit des Herzens befreit werden möchten. Unsere höchste Aufgabe sei die Betrachtung des Lebens Jesu Christi. (1,1)

Was nun das Kreuz betrifft, das heute im Zentrum steht, bedeutet es natürlich nicht, wir sollten uns kreuzigen lassen oder mindestens als Missionare irgendwo auf der Welt für unseren Glauben sterben. Doch unser altes ‹Ich› sollte unbedingt am Kreuz sterben. Das ist das ‹Ich›, das uns die ganze Zeit versucht zu steuern, obwohl wir es nicht wollen, wo wir dann denken: Das kann doch nicht wahr sein, das bin doch nicht ich. Hier ist das Kreuz die ideale Gelegenheit das alte «Ich» loszuwerden, denn nur durch den Tod kommt das neue Leben, wie es heisst:

Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. (Mt 16,24b–25)

Und wie geht das? Sie lassen los, Sie tun einfach nichts. Doch auf eine aktive Art und Weise. Denn, wie der bekannte Religionsphilosoph Alan Watts schreibt:

Es ist das universelle Zeugnis der ‹Gott-Erkennenden›, dass das geistige Leben des Menschen in dem Augenblick aufdämmert, in dem er in einem tiefen und besonderen Sinn nichts tut. «Ich tue nichts aus mir». Dies ist keine gewöhnliche Untätigkeit, denn mit der bestimmten Absicht, heilig zu werden, wie es der ‹Quietismus› verlangt, ist noch aktives Tun. Es bedarf einer Leistung, um Gott zu entdecken. Der wahre Zustand der göttlichen Vereinigung aber ist ‹ohne jeden Zweck› und tritt ein, wenn der Mensch ‹aufgibt› – nicht um irgendetwas zu erreichen, sondern weil er mit Gewissheit weiss, dass er keine andere Möglichkeit hat. … Dieses ‹Aufgeben› ist das Opfer, durch das die Verwandlung des Kreuzes aus einem Werkzeug der Qual in das ‹Heilmittel der Welt› geschieht, so dass der Baum des Todes zum Baum des Lebens wird. (1991:149–150)

Der Tod des alten «Ich» setzt den Geist und seine Kreativität frei, sodass wir zu leben beginnen und mit Paulus dann sagen dürfen:

Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Was ich nun im Fleische lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat. (Gal 2,20)