Der Sehnsucht folgen (Lk 14,25–30)

Viele Menschen begleiteten ihn; da wandte er sich an sie und sagte: Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und hinter mir hergeht, der kann nicht mein Jünger sein. Denn wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und berechnet die Kosten, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen. (Lk 14,25–30)

Es sind ganz radikale Worte, die Jesus zu seinen Jüngern und zu allen, die ihm folgen wollen, im Lukasevangelium sagt: «Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein». (V.26) Und später fügt er noch hinzu: «Ebenso kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet». (V.33) Und es gibt in der Geschichte immer wieder Menschen, die diese Worte Jesu ernst nehmen und sie in Tat umsetzten: wie der Hl. Benedikt von Nursia oder unser Schweizer Heiliger Niklaus von Flüe.

Wie Marie-Louise von Franz in ihrem Buch Die Visionen des Niklaus von Flüe schreibt:

[E]s wird von einer […] Vision berichtet, welche Klaus mit sechzehn Jahren hatte: Ein Freund, Erni an der Halden, sagt aus, Bruder Klaus habe ihm anvertraut, er habe, als er sechzehn Jahre alt war, einen hohen, schönen Turm gesehen, an der Stelle, wo jetzt sein Häuslein und die Kapelle stünden. Daher sei er auch von jung auf willens gewesen, «ein einig wesen (einsames Leben) zu suochen, als er ouch getan». (2015)

Bruder Klaus wurde im Unterschied zum Hl. Benedikt zwar kein Mönch, doch seine Tat war nicht weniger radikal: Er verliess seine Frau Dorothea und die Kinder und wurde Einsiedler in der Ranftschlucht. Dies geschah zwar mit dem Einverständnis seiner Frau, doch ich frage mich, was für eine Wahl seine Frau Dorothea eigentlich hatte? Denn wenn sie ihn nicht gehen lassen würde, wäre Niklaus sehr wahrscheinlich von seinen Visionen und der Sehnsucht innerlich zerfetzt worden. Doch Dorothea war eine weise Frau: Sie lies ihn gehen und dadurch konnte sie ihn retten und für sie und die Familie behalten, denn seine Klause in der Ranftschlucht war nur einige Minuten von ihrem Zuhause entfernt und so konnten sie ihn sogar besuchen.

Als Mönch oder Einsiedler zu leben, das ist bestimmt nicht für jede oder jeden von uns. Doch auch als ‹Alltagschristen› können wir von Bruder Klaus und Dorothea etwas sehr wichtiges für unser Leben lernen:

  1. Wenn wir im Leben glücklich sein wollen, müssen wir unseren Visionen folgen; und:
  2. wir müssen es um jeden Preis tun, genauso wie es Jesus verlangt.

Denn, wie wir gleich sehen werden, er verlangt es nicht ‹von uns› – für sich oder das Himmelreich, sondern ‹für uns› – für unser Leben, wie es im Lukasevangelium drei Kapitel später so schön heisst:

Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es erhalten. (Lk 17,33)

Dass dies wahr ist, beweisen nicht nur die Biographien von Heiligen, sondern auch die von unseren Zeitgenossen. Der berühmte Psychologe Carl Gustav Jung beispielsweise gab bewusst seine akademische Karriere auf und zog sich für einige Jahre zurück, um sich mit seinen Visionen auseinanderzusetzen, denn wie er in seinen Erinnerungen später festhält:

Ich spürte, es war etwas Großes, das mir widerfuhr, und ich baute auf das, was mir sub specie aeternitatis [unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit] als wichtiger erschien. Ich wusste, es würde mein Leben ausfüllen, und ich war um dieses Zieles willen zu jedem Wagnis bereit. Was bedeutete es schon, ob ich Professor gewesen bin oder nicht? (2020:216)

Und er hat richtig entschieden. Denn die Professur hat er später erhalten und wie er in seinen Erinnerungen schreibt:

Die Jahre, in denen ich den inneren Bildern nachging, waren die wichtigste Zeit meines Lebens, in der sich alles Wesentliche entschied. […] Es war der Urstoff für ein Lebenswerk. (2020:222)

Nun würden viele sagen: Schön, aber ich habe keine Visionen, denen ich nachgehen müsste oder könnte. Doch das stimmt nicht. Denn Visionen sind nichts anderes als ausgeprägte Bilder unserer inneren Sehnsucht, die jedem Menschen inne wohnt. Es sind Träume, die uns erzählen, wie unser Leben aussehen könnte. Es sind Visionen unser selbst.

Denn wir werden bei unserer Geburt in diese Welt zwar regelrecht hineingeworfen, aber nicht ohne einen Kompass und eine Karte in unserem Innersten, die uns ein Leben lang den Weg zeigen. Wir müssen es lediglich zulassen, unserem Innersten zuhören und sich von unserem wahren ‹Ich› führen zu lassen. Dieses wahre ‹Ich› ist der ‹Christus› in uns, dem wir folgen sollten, damit sich erfüllt, was der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Galatien schreibt:

Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. (Gal 2,20)

Wie der Religionsphilosoph Alan Watts schreibt: Dieser ‹Christus in uns› ist «das ewige Selbst, das niemals tatsächlich in die Zeit eingeht» (1991:149). Unsere Lebensaufgabe besteht also darin es zu erkennen, zurück zu sich zu finden und sich führen zu lassen, «um sich aus der Bindung der Zeit zu befreien» (1991:149). Wie es auch in der Vorhalle des berühmten Tempels von Delphi in goldener Schrift stand: «ΓΝΩΘΙ ΣΕΑΥΤΟΝ / ERKENNE DICH SELBST».

Doch wir müssen nicht nach Delphi oder zu einem anderen Orakel. Denn das bekannte Gebet des Bruders Klaus, kann uns auf diesem Weg ebenso gut helfen. Das Gebet ist dreiteilig und in dem ersten Teil heisst es:

  1. Mein Herr und mein Gott,
    nimm alles von mir,
    was mich hindert zu Dir.

Das ist der Punkt, wo wir unser Leben verlieren müssen: Wir sollten unser altes zeitliches ‹Ich› am Kreuz sterben lassen, um innerlich entleert werden. Wir sollten aufgeben und nichts tun. Wie Alan Watts schreibt:

Es ist das universelle Zeugnis der ›Gott-Erkennenden‹, daß das geistige Leben des Menschen in dem Augenblick aufdämmert, in dem er in einem tiefen und besonderen Sinn nichts tut. »Ich tue nichts aus mir«. [… Denn d]er wahre Zustand göttlicher Vereinigung […] ist ›ohne jeden Zweck‹ und tritt ein, wenn der Mensch ›aufgibt‹ – nicht um irgend etwas zu erreichen, sondern weil er mit Gewissheit weiß, daß er keine andere Möglichkeit hat. (1991:149)

Im zweiten Schritt geht es nun darum erfüllt zu werden und im Gebet des Bruders Klaus heisst es:

  1. Mein Herr und mein Gott,
    gib alles mir,
    was mich fördert zu Dir.

Nach dem Ausatmen des alten Lebens erfolgt das Einatmen des Neuen. Das ‹Christus-Ich› in uns sollte Luft bekommen und aufleben. Durch das Ausatmen des Alten und das Einatmen des Neuen soll unser Innerstes gereinigt werden, damit Christus in uns erstrahlen kann.

Die dritte Strophe des Gebetes fasst dann beides zusammen:

  1. Mein Herr und mein Gott,
    nimm mich mir
    und gib mich ganz zu eigen Dir.

Dies zeigt uns, dass dieses Gebet ein Prozess ist und es – wie atmen – ein Leben lang dauert. Das alte ‹Ich› soll in uns während dieser Zeit kleiner werden: «nimm mich mir» heisst es dort. Das neue ‹Christus-Ich› soll in uns dagegen wachsen: «gib mich ganz zu eigen Dir». Denn das Ziel unseres Lebens ist, was Johannes Scheffler (Angelus Silesius) im Cherubinischen Wandersmann schreibt:

Soll ich mein letztes End und ersten Anfang finden,
So muss ich mich in Gott und Gott in mir ergründen.
Und werden das, was er: ich muss ein Schein im Schein,
Ich muss ein Wort im Wort, ein Gott in Gotte sein.