Über die Berufung (Mk 1,14–20)

Erfüllt ist die Zeit, und nahe gekommen ist das Reich Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15)

Ich lade Sie heute zu einem Gedankenexperiment ein. Stellen Sie sich folgende Situation vor, die irgendwann in der Zukunft spielt: Sie wohnen in einem modernen Haus am See, natürlich auf der Sonnenseite. Arbeiten müssen Sie nicht mehr, sondern Sie können Ihren Hobbys nachgehen, oder vielleicht wollen Sie nur den Seeblick auf Ihrer geräumigen Terrasse geniessen. Denn die Gesellschaft ist inzwischen so reich geworden, dass niemand mehr arbeiten muss. Und auch die Medizin hat schon so viele Fortschritte gemacht, dass niemand mehr ernsthaft krank wird und Menschen im Schnitt fast zweihundert Jahre oder noch älter werden.

Doch eines Tages entführt Sie jemand und bringt Sie in ein abgelegenes Bergtal am Ende der Welt, wo die Menschen noch wie im Mittelalter leben. Und damit Sie dort bleiben und keine Fragen stellen, werden alle Spuren verwischt und darüber hinaus wird auch Ihre Erinnerung gelöscht, was in der Zukunft viel einfacher sein sollte als heute. Dennoch gelingt es denen, die Sie entführt haben, nicht so perfekt und so haben Sie ständig das Gefühl, dass mit Ihrem Leben in diesem abgelegenen Bergtal etwas nicht stimmt. Ab und zu träumen Sie in der Nacht sogar über eine andere Welt und über ein Leben in einem schönen Haus am See. Diese Träume können Sie aber nicht Ihren Erinnerungen zuordnen. Und es gibt auch Gerüchte in Ihrem Tal, dass hinter den grossen Bergen noch eine ganz andere Welt sei. Allerdings gehen die Informationen darüber, wie diese Welt hinter den Bergen aussehe, sehr weit auseinander, und es gibt auch niemanden, der dort gewesen wäre und bestätigen könnte, dass an diesen Gerüchten überhaupt etwas wahr sei. Und ja, natürlich haben seit Generationen viele schon versucht eine Passstrasse durch die Berge zu finden, doch noch nie ist es jemandem gelungen.

Diese kleine Geschichte, die ein bisschen an Science Fiction erinnert, illustriert sehr gut das Gefühl, das allen Menschen und Religionen auf der Welt gemeinsam ist. Nämlich, dass das irdische Bergtal, das wir seit unserer Geburt kennen, nicht die ganze Welt ist. Klemens von Alexandrien, ein christlicher Theologe, der im 2. Jahrhundert in Ägypten gewirkt hat, stellt in einem seiner Werke folgende Fragen, die dieses Gefühl der Menschheit, dieses In-die-Welt-geworfen-Sein, sehr gut illustrieren. Er fragt:

Wer waren wir?
Was sind wir geworden?
Wo waren wir?
Wohinein sind wir geworfen?
Wohin eilen wir?
Wovon sind wir befreit?
Was ist Geburt, was Wiedergeburt?

(Excerpta ex Theodoto 78,2)

Und ähnlich fragt noch im 20. Jahrhundert auch der bekannte deutsche Philosoph Ernst Bloch:

Wer sind wir?
Wo kommen wir her?
Wohin gehen wir?
Was erwarten wir?
Was erwartet uns?

(Prinzip Hoffnung 1970, 1)

Die Antworten auf diese Fragen unterscheiden sich natürlich von Kultur zu Kultur und jede Religion hat eine eigene Erzählung darüber, wie die Welt hinter den Bergen aussehen mag. Diese Erzählungen widersprechen sich zwar zum Teil, aber das bedeutet nicht, dass diese Erzählungen falsch sind, denn vielleicht ist die Welt hinter den Bergen vielschichtiger als wir uns es hier vorstellen können. Und so erzählt man in einem Dorf über die Palmen und das blaue Meer und einem anderen Dorf wiederum von fabelhaften Landschaften, die angeblich nur aus dem Schnee bestehen.

In dem Dorf der Christen, ganz am Rande des Tals, sollte es dann in alten Zeiten sogar jemanden geben, der aus der Welt hinter den Bergen gekommen ist, um uns nach Hause zu holen. Denn unser wahres Zuhause soll eine glänzende Stadt sein (Offb 21,11), die hinter den Bergen liegt. Und bis zum heutigen Tag sollte es in diesem Dorf seine Jünger geben, die den Weg zu der einzigen Passtrasse kennen, die aus dem Bergtal führt.

Die Kirche kann man also als eine Weggemeinschaft von all denjenigen bezeichnen, die wie die Jünger in unserem Evangelium, die Stimme des Herrn gehört haben, die zu ihnen sagt:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater ausser durch mich. (Joh 14,6)

Als Jüngerinnen und Jünger Jesu sind wir also alle berufen und gehen gemeinsam diesen Weg, in der Hoffnung, dass uns unser Herz nicht täuscht, das uns sagt, dass diese Geschichte wahr ist, und dass uns unsere Sehnsucht und unsere Träume nicht anlügen, wenn sie uns erzählen, dass wir eines Tages zurück in diese glänzende Stadt, zurück zu unserem himmlischen Vater, finden werden.

Doch die Entscheidung zur Nachfolge war in jeder Zeit und ist bis heute keine einfache Entscheidung, sondern wie die Benediktinerin Charis Doepgen in einem ihrer Gedichte schreibt, die «Nachfolge» ist

Ein Entschluss
mit Folgen

die da sind:
Netze liegen lassen
mit denen man bisher
erfolgreich war

Beziehungen aufgeben
die einen bisher
getragen haben

Die Frage nach dem Lohn
wird erst später gestellt

Nachdem Gott
mich gesehen hat
ist erst einmal
Eile angesagt

Bei der Nachfolge Christi geht es um eine fundamentale Ausrichtung des Lebens, die alles verändert. Denn auch die Frage, die sich hier stellt, ist fundamental: Bleibe ich in der Gefangenschaft dort, wo ich bin, oder riskiere ich einen schmalen unsicheren Weg durch die Berge, der vielleicht in die Freiheit führt? Und für eine solche Entscheidung ist eigentlich nur die Antwort auf folgende Frage von Bedeutung: Wie kann ich sicher sein, dass diese uralte Geschichte stimmt?

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen würden an dieser Stelle sagen: «Ja, das kann man natürlich nie 100% wissen, man muss es einfach glauben». Und «Glauben» wird in diesem Fall praktisch mit «Nicht-Wissen» gleichgesetzt. Das ist aber grundlegend falsch. Ausserdem ist diese Wahrheitsfrage vollkommen legitim und man sollte in diesem Fall 100% sicher sein, denn die Meisten von uns würden auch nicht aufbrechen, um ‹auf gut Glück› nach einem sagenhaften Pass in unbekannten Bergen zu suchen. Es braucht also einen Beweis – und dieser Beweis ist eben der Glaube. Dies mag zuerst verwirrend klingen, zumal das Wort «Glaube» heutzutage vor allem dort verwendet wird, wo ich nicht 100% sicher bin oder sein kann. Wie: «Ich ‹glaube›, kommende Woche wird es wieder schneien». Und auch in der Kirche heisst es oft fälschlicherweise: Wir ‹wissen› es nicht, aber wir ‹glauben› es. Doch das griechische Wort «πίστις» (pistis), das man im Neuen Testament üblicherweise mit «Glaube(n)» übersetzt, hat eine etwas andere Bedeutung; unter anderem bedeutet es zum Beispiel auch «Beweis» an sich. Wenn mich also jemand fragt, was «Glauben» bedeutet, dem empfehle ich immer im Neuen Testament den Hebräerbrief nachzuschlagen. Denn der unbekannte Autor aus dem 1. Jahrhundert nach Christus beschreibt dort im 11. Kapitel sehr schön, worin «Glauben» besteht. Er schreibt:

Glauben besteht darin, dass ein Stück des Erhofften als geheime Kraft schon wirklich ist. Der Glaube ist selbst der Beweis für das, was man nicht sehen kann. Im Glauben nehmen auch wir wahr, dass die Räume und Zeiten der Welt durch Gottes Wort geschaffen sind, also das Sichtbare durch das Unsichtbare. Glaube ist die Kraft, das zu sehen, obgleich man es nicht sieht. (Hebr 11,1.3; Klaus Berger 2017)

Mit anderen Worten gesagt: Der Glaube bedeutet Bescheid zu wissen und zwar darüber, was ich (noch nicht) sehen bzw. berühren kann. Denn alles, was ich glauben kann, stellt bereits eine Wirklichkeit dar, die zu einem späteren Zeitpunkt offenbar wird und sich auch körperlich berühren lässt. Wie zum Beispiel eine Insel, die beim Segeln auf dem See plötzlich aus dem Nebel auftaucht und die ich schon viel früher sehen kann, bevor ich sie physisch betreten kann. Die Jünger sind Jesus auch nicht einfach ‹auf gut Glück› gefolgt, sondern sie haben ‹geglaubt›, was nichts anderes bedeutet, als dass sie neben seiner Stimme auch die Stimme in ihrem Innersten gehört haben, die ihnen bezeugt hat, dass dieser Fremde die Wahrheit sagt.

Menschen, die viel Zeit im Gebet verbringen, sind meistens ausreichend sensibilisiert, sodass sie die Stimme ihres Herzens bzw. ihres Geistes hören können. Und irgendwann später können Sie mit ihren inneren Augen auch das (noch) Unsichtbare sehen, sodass sie aufgrund ihres Glaubens in ihrem Leben auch Entscheidungen treffen können, die – von aussen betrachtet – zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht noch nicht sehr viel Sinn ergeben, sich dennoch später als richtig erweisen. Der Hebräerbrief listet in seinem 11. Kapitel ja eine ganze Menge von Menschen auf, die in der Geschichte der Menschheit auf diese Art und Weise gehandelt haben.

Das klingt natürlich schön, aber was sollte man machen, wenn man keine Erfahrung hat, wenn man die innere Stimme nicht hören und mit den inneren Augen nichts sehen kann? Und kann es überhaupt jeder oder ist es nur so eine Sache für ein paar besonders begabte Menschen? Und hier lautet die gute Nachricht: ja, jeder kann es. Denn jeder Mensch ist von der Schöpfung her ein Bild Gottes, wie es im Buch Genesis steht (Gen 1,26). Das bedeutet, dass jeder Mensch einen Geist hat, der auch sehen und hören kann, denn eine Blindheit oder Taubheit droht in diesem Fall niemandem. Allerdings sind sich viele heutzutage ihres Geistes nicht mehr bewusst. Der erste und wichtigste Schritt besteht also darin, sich wieder dessen bewusst zu werden, was ich wirklich bin. Und hier empfehle ich jedem am Anfang folgende Übung, die aus drei Schritten besteht: 1. Schreiben Sie zwischendurch ihre Träume auf, insbesondere die, die Sie ganz klar erinnern können; 2. folgen Sie im Alltag mehr ihrer Intuition, also Ihrem sechsten Sinn; und 3. verbringen Sie ab und zu etwas Zeit in der Stille, vielleicht mit einem einfachen Gebet.

Auf diese Art und Weise können Sie sich relativ einfach von Ihrem inneren Kompass führen lassen. Denn jeder Mensch hat Träume und gerade in Träumen ist unser Geist sehr aktiv. Die Intuition stellt dann die Stimme unseres Geistes am Tag dar, diese ist allerdings meistens sehr leise. Die Stille und das Gebet helfen uns also diese Stimme zu hören, denn das ist auch der Ort, wo zu uns Gott an erster Stelle spricht. Wie die Hl. Teresia Benedicta vom Kreuz, die mehr unter ihrem bürgerlichen Namen Edith Stein bekannt ist, schreibt:

Wer nicht zu sich selbst gelangt, der findet auch Gott nicht und kommt nicht zum ewigen Leben. Oder richtiger noch: Wer Gott nicht findet, der gelangt auch nicht zu sich selbst (mag er auch noch so sehr mit sich selbst beschäftigt sein) und zu dem Quell des ewigen Lebens, der in seinem eigenen Innersten auf ihn wartet. (Gesamtausgabe 11/12, 465)

Denn die Passtrasse aus diesem irdischen Bergtal führt durch unser Innerstes, durch die Berge und Hügel unseres Herzens.