Von der Versuchung (Lk 4,1–13)

Und als der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von ihm bis zur bestimmten Zeit (Lk 4,13)

Jeden Sonntag beten wir im Gottesdienst mit folgenden Worten:

Unser Vater … führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.

Ein Gebet, das Christen verschiedener Konfessionen von der ganzen Welt verbindet oder besser gesagt: verbunden hat. Denn im Dezember 2017 kam der jetzt amtierende Papst mit der Idee, dass die deutsche Übersetzung falsch sei und zwar mit folgender Begründung:

Ein Vater tut so etwas nicht: ein Vater hilft, sofort wieder aufzustehen. Wer dich in Versuchung führt, ist Satan.

Und er begrüsste den Beschluss der französischen Bischöfe, die offizielle Übersetzung des Vaterunsers zu ändern. In den katholischen Gottesdiensten in Frankreich betet man heute also:

Lass uns nicht in Versuchung geraten…

Diese Formulierung entspricht vielleicht dem Zeitgeist, sie ist aber bestenfalls eine sehr freie Interpretation der Worte Jesu, vielmehr aber eine Verfälschung. Denn egal, ob man nun das Matthäus- oder das Lukasevangelium nimmt, diese Bitte lautet dort immer gleich: «Und führe uns nicht in Versuchung». Und als Neutestamentler kann ich sagen, dass diese Übersetzung vollkommen richtig ist. Wer also mit den Worten Jesu beten will, sollte bei dieser Übersetzung bleiben.

Dennoch bleibt diese Bitte für viele eine Zumutung und es gibt in der Bibel auch Texte, die dem Papst auf den ersten Blick recht zu geben scheinen, wie der Jakobusbrief, wo steht:

Keiner, der in Versuchung gerät, soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt. Denn Gott lässt sich nicht zum Bösen versuchen, er führt aber auch selbst niemanden in Versuchung. Vielmehr wird jeder von seiner eigenen Begierde in Versuchung geführt, die ihn lockt und fängt. (Jak 1,13–14)

Was jetzt also? Hat der Papst doch recht? Nein, der Paps irrt. Und die heutige Erzählung über die Versuchung Jesu in der Wüste, zeigt sehr schön, wie die Dinge stehen.

Es ist zweifelsohne der «Teufel», auf Griechisch «Diabolos» und auf Hebräisch «Satan», der hier Jesus «versucht». Es war aber der Geist, von dem Jesus vierzig Tage lang in der Wüste umhergeführt wurde. Jesus wird hier also zweifelsohne in die Wüste und hiermit auch in die Versuchung von Gott geführt. Doch versucht wird man in der Tat nicht von Gott, sondern von dem Bösen, oder wie es Jakobus formuliert – von der eigenen Begierde.

Auf den meisten Bildern zur Versuchung Christi wird der Teufel sehr schön als eine Person abgebildet: eine düstere Gestalt mit Flügeln und/oder Hörnern, die zu Jesus spricht. Doch es gibt auch solche Bilder, wie zum Beispiel das Bild Christus in der Wüste von Iwan Kramskoi (1872), wo Jesus ganz alleine in der Wüste zu sehen ist. Ich denke, all diese Bilder zeigen hier ein Teil der Wirklichkeit: Das Böse ist da, seine Versuchung ist aber nur dann wirksam, wenn wir ihm diese Macht geben – ohne unsere Begierden und Ängste ist die Versuchung leer, wie eine Fasnachtsmaske. Sie kann uns zwar erschrecken, antun kann sie uns aber nichts. Doch was sind diese Begierden? Schauen wir uns genauer die drei Versuchungen Jesu:

  1. Er sollte sollte einen Stein ins Brot verwandeln;
  2. er sollte nach der Weltherrschaft greifen;
  3. und er sollte sich von dem Jerusalemer Tempel stürzen,
    denn Gott würde ihn ja retten.

Es ist im Grunde immer wieder eine einzige Versuchung, nur in dreierlei Gestalt: Jesus sollte der Messias werden, den alle wollen – ein mächtiger Wundertäter, der die Römer vertreibt und unbesiegbar ist. Doch Jesus konnte dieser Versuchung widerstehen: Seine Wunder sind meistens abseits der Menschenmassen geschehen und er hat die Geheilten gebeten darüber niemandem zu erzählen; politisch hat er nichts bewirkt und viele, die ihn am Palmsonntag als den zukünftigen König bejubelt haben, hat er zweifelsohne enttäuscht, insbesondere seinen Jünger Judas; und am Ende stirbt er noch wie ein Verbrecher am Kreuz, statt von Gott im letzten Augenblick gerettet zu werden. Von den Erwartungen der Menschen her also eher ein ‹Anti-Messias›. Doch heute, fast 2000 Jahre später, wissen wir es besser: er hat alles erreicht und das Leben von Millionen von Menschen verändert, weil er den Versuchungen in der Wüste widerstehen konnte und den «schmalen Weg» (Mt 7,14) gegangen ist.

Die Versuchung lockt uns immer auf den «breiten Weg» (Mt 7,13). Sie spricht zu unseren Ängsten oder Begierden und bietet uns eine schnelle und einfache Lösung an und dies am meisten in den Wüstenabschnitten unseres Lebens: Wenn nichts zu gelingen scheint und wir keine Zukunftsperspektive haben oder wenn wir das Gefühl haben zu wenig vom Leben abbekommen zu haben. Dann kommt der «Teufel» und bietet uns sofort all das an, was wir uns im Geheimen wünschen oder sogar das, was uns Gott verheissen hat – wenn wir die Verheissung Gottes beiseite legen und hiermit auf unseres Erbe verzichten; wie Esau, der sein Erstgeburtsrecht an Jakob für etwas zum Essen verkauft hat. Dieser Versuchung konnte sogar Abraham nicht widerstehen: Gott hat ihm und Sara einen Sohn versprochen, obwohl sie schon alt waren (Gen 15). Doch Jahre sind vergangen und nichts ist passiert. Die Lösung schien dann die Sklavin Hagar und der Sohn Ismael zu sein (Gen 16). Es war zwar nicht ganz das, was Gott Abraham versprochen hat, denn Ismael war kein Sohn von Sara, aber immerhin ein Sohn, dem Abraham alles vererben kann. Doch Gott hielt sein Wort und so haben Abraham und Sara im hohen Alter doch einen Sohn, Isaak, bekommen, wie Gott versprochen hat.

Es dauert oft sehr lange, bis Gottes Wort in Erfüllung geht. So war es mit Abraham, so war es mit dem lange versprochenen Messias und nun warten wir schon mehr als zweitausend Jahre auf die versprochene (baldige) Wiederkunft Christi. Die grösste Versuchung auf dem Weg Gottes scheint mir also die Versuchung eine Abkürzung nehmen zu wollen: Warum sollten wir warten, wenn es die Möglichkeit gibt gleich alles zu haben? Und warum werden wir von Gott im Leben überhaupt in eine Wüste geführt, wo man nur Zeit und Energie verliert? Ich weiss es nicht und es kann verschiedene Gründe haben, wie in der Bibel auch. Was ich aber weiss und was auch die ersten Christen wussten, die sich in die wirkliche Wüste zurückzogen, dass man in der Wüste Gott sehr viel näher ist und seine Stimme viel deutlicher hört. Und vielleicht ist das der Grund: Immer wenn wir die Orientierung verlieren, führt uns Gott in die Wüste und zu sich zurück, bis wir diese Orientierung im Leben wieder gefunden haben. Denn, wie Charis Doepgen schreibt: Die «Versuchung [ist] ein Suchen, das sich verirrt hat. Verirrung, die den Weg zurück nicht mehr findet». Und so irren wir eine Weile in der Wüste und werden versucht, bis wir den Weg zu Gott und zu uns und zum wahren Ziel unseres Lebens zurückgefunden haben. Bei Jesus heisst es dann im Lukasevangelium: «Der Teufel wich von ihm bis zur bestimmten Zeit», (und zwar bis zum letzten Abendmahl am Gründonnerstag), und er «kehrte, erfüllt von der Kraft des Geistes, nach Galiläa zurück». Er kehrte von der Wüste also stärker und fokussierter zurück als er es vorher war.

Die vorösterliche Fastenzeit ist eine Einladung an uns sich freiwillig in die Wüste zu begeben, um Gott zuzuhören und wieder zu sich zu finden. Wie Reinhard Lettmann in einem Gebet schreibt:

In der Wüste suche ich dein Angesicht,
in der Wüste ernährt mich dein Brot.
Ich fürchte nicht, in deiner Spur zu gehen,
dein lebendiges Wasser sprudelt für meinen Durst.

In der Wüste höre ich dein Wort,
in der Wüste, fern vom Lärm,
tröstet mich die Erinnerung an dein Gesetz.
Verborgener Gott, du willst zu meinem Herzen sprechen.

In der Wüste atme ich deine Luft.
In der Wüste wohnt der Geist,
er ist die Kraft am Morgen, die mich treibt.
Er ist das Feuer, das mir vorausgeht in der Nacht.

Der italienischer Schriftsteller Carlo Caretto hat ein sehr schönes Buch mit dem Titel Il deserto nella città (Die Wüste in der Stadt) verfasst, wo er bemerkt: Die «Wüste bedeutet nicht die Abwesenheit von Menschen, sondern die Anwesenheit Gottes». Mit anderen Worten: Die Wüste ist überall dort, wo wir Gott zuhören. Wirklich zu fasten kann uns dabei helfen, muss es aber nicht, wenn wir dabei das Ziel aus den Augen verlieren. Ich persönlich schätze hier die Regel des Hl. Benedikt, die dem Beten und Lesen den Vorrang vor dem leiblichen Fasten gibt und das freudige Klima christlichen Fastens als intensive Pflege der Beziehung zu Gott unterstreicht. Benedikt schreibt:

Deshalb raten wir, dass wir wenigstens in diesen Tagen der Fastenzeit in aller Lauterkeit auf unser Leben achten […]. So möge jeder über das ihm zugewiesene Mass hinaus aus eigenem Willen und in der Freude des Heiligen Geistes Gott etwas darbringen […] und mit geistlicher Sehnsucht und Freude das heilige Osterfest erwarten. (Regula Benedicti 49)

In diesem Sinne wünsche ich uns eine gesegnete und vor allem eine fröhliche Fastenzeit!