Gott alles in allem

Der Herbst ist wieder da und mit ihm das Wetter, das viele von uns etwas melancholisch stimmt. Der Nebel, Regen und die Natur, die sich langsam auf den Winterschlaf vorbereitet, laden zum Nachdenken ein. Und am letzten Sonntag im November blicken wir auch auf das vergangene Kirchenjahr zurück und sind in Gedanken bei den Menschen, die wir in diesem Jahr verloren haben. Wir nennen diesen Sonntag den «Ewigkeitssonntag», denn wir werfen einen Blick in die Ewigkeit. Und als Christinnen und Christen sehen wir dort Christus, der als König über alles regiert. Deswegen wird dieser Sonntag in einigen Kirchen auch als «Christkönigssonntag» bezeichnet. Und am Ende der Zeit wird auch der Tod entmachtet, wie es Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth schreibt:

Der letzte Feind, der entmachtet wird, ist der Tod. Wenn Christus dann alles unterworfen ist, wird auch er, der Sohn, sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei. (1. Korinther 15,26.28)

Die Ewigkeit stellt den Tod der Zeit dar und mit ihr stirbt auch der Tod. Was übrig bleibt, ist «Gott», der «alles in allem» ist. Da Gott aber nicht zeitlich ist, ist es von der Perspektive der Ewigkeit her betrachtet schon jetzt der Fall. Doch wir als Menschen, zumal wir im Unterschied zu Gott zeitlich sind, sehen nur einen kleinen Ausschnitt des Ganzen.

Der bekannte Religionsphilosoph Alan Watts (1915–1973) erzählt dazu ein schönes Gleichnis. In seinem Buch Die Illusion des Ich (On The Taboo Against Knowing Who You Are) schreibt er:

Wenn ich einen Baum zum ersten Mal im Winter sehe, dann kann ich annehmen, dass es kein Obstbaum ist. Aber wenn ich ihn im Sommer wieder sehe und feststelle, dass er voller Pflaumen hängt, dann muss ich sagen: »Entschuldigung! Du bist doch ein Obstbaum.«

Auch wir wissen nicht, wer wir wirklich waren und sind und was wir in der Ewigkeit sein werden, zumal wir nur unser heutiges Leben kennen. Doch von der Gegenwart her auf das Ganze zu schliessen, wäre genauso töricht, wie über einen Obstbaum im Winter zu urteilen, oder zu denken, den Herbst darf es nicht geben. Allerdings wissen wir, dass der Herbst zum Kreislauf der Jahreszeiten gehört, in dem nach dem Winter der Frühling kommt. Und so lassen wir uns die Freude an den bunten Blättern und vielleicht auch an dem Nebel und später an dem Schnee nicht nehmen. Und dies sollten wir auch bei den Jahreszeiten unseres Lebens tun!

Vom Zauber der Mittsommernacht

Wie Ehrfurcht gebietend ist doch dieser Ort! Er ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels. (Gen 28,17)

Es gibt zweifelsohne Orte, die näher am Himmel ‹gebaut› sind als andere, wie zum Beispiel das alttestamentliche Bet-El, wo Jakob im Traum eine Treppe in den Himmel sieht, auf der Engel Gottes auf- und niedersteigen (Gen 28,10–22). Oder wie in unserer Zeit der Wallfahrtsort Lourdes, die Kathedrale von Chartres oder bei uns in der Schweiz die Kirche Scherzligen, die zu den tausendjährigen Kirchen am Thunersee gehört und sich auf einem uralten Kraftort befindet. Wenn man solche Orte betritt, spürt man unmittelbar die Kraft, die sie ausstrahlen. Und zweifelsohne gibt es auch Zeiten, zu denen sich der Himmel an vielen verschiedenen Orten öffnet und sie zu heiligen oder magischen Orten macht; auch wenn nur für eine kurze Zeit – etwa für eine Nacht.

Die Mittsommernacht, die man am Tag der Sommersonnenwende feiert, ist in diesem Fall die beste ‹Adresse› für alle, die etwas von dieser magia naturalis (natürlichen Magie) erleben wollen. Im Christentum ist die Mittsommernacht mit dem Hochfest der Geburt Johannes‘ des Täufers am 24. Juni verbunden, die im Kirchenjahr den sommerlichen Gegenpol zur Geburt Christi bildet. Aus diesem Grund hat man früher auch von der «Sommerweihnacht» gesprochen und im Norden Europas wird diese Nacht bis heute fast mehr gefeiert als Weihnachten und ihr Zauber spiegelt sich auch in der bekannten Komödie Ein Sommernachtstraum von William Shakespeare wider.

Doch was macht die Magie dieser Orte und Zeiten eigentlich aus? Meines Erachtens ist es vor allem eine Art Erkenntnis: Wir stellen fest, dass wir in unserem Innersten nicht getrennt, sondern tief verbunden mit dem Universum sind. In diesem Augenblick öffnet sich in uns Menschen «das Tor des Himmels» (Gen 28,17) und es erfüllt sich das, was Jesus im Johannesevangelium seinen Jüngern verspricht:

Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn. (Joh 1,51)

Über den Glauben hinaus

Wer kennt nicht das «Höhlengleichnis» des griechischen Philosophen Platon (ca. 429–347 v.Chr.), wo Menschen – von Kindheit an in einer Höhle gefesselt – nur Schatten verschiedener Gegenstände zu sehen bekommen und diese für die einzige Wirklichkeit halten? Es ist das bekannteste Gleichnis der Philosophiegeschichte überhaupt und es drückt zugleich ein allgemeines Gefühl der Menschheit aus: Die Welt ist rätselhaft und das, was wir sehen, kann nicht die ganze Wahrheit sein. Oder wie es der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe poetisch sagt: «Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis» (Faust 2,V). Doch ein Gleichnis ist ein Zeichen, das auf etwas Anderes hinweist, und in diesem Fall ist es ein Wegweiser zum Unvergänglichen.

Wie die meisten Religionen und Philosophien knüpft auch das Christentum hier an und verspricht den Suchenden, sie in die Wahrheit zu führen, wie der Apostel Paulus schreibt: «Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin» (1Kor 13,12). Doch wann geschieht es? Wann sehen wir nicht mehr nur rätselhafte Umrisse, sondern schauen Gott von Angesicht zu Angesicht? 

Das Johannesevangelium zeigt uns hier den einfachsten Weg. Hier heisst es gleich am Anfang: «Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht» (Joh 1,18). In Christus können wir Gott erfahren, ja noch mehr: In Christus können wir Gott berühren. Denn am Ende der Geschichte sagt der Auferstandene: «Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!» (Joh 20,27). Und mit dieser Berührung verlassen wir das Grab, die Welt der Schatten und Gleichnisse, und werden über den Glauben hinaus geführt, hin zu der Wirklichkeit der Auferstehung. Denn die Auferstehung geschieht überall dort, wo wir Gott berühren und von ihm berührt werden: hier blüht das Leben auf.

Haben wir also keine Angst, Gott zu berühren und von ihm berührt zu werden: dafür ist die Osterzeit da.

Über das Wesen der Zeit (Mt 24,37–44)

In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wie es in den Tagen des Noach war, so wird die Ankunft des Menschen-sohnes sein. Wie die Menschen in jenen Tagen vor der Flut aßen und tranken, heirateten und sich heiraten ließen, bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging, und nichts ahnten, bis die Flut hereinbrach und alle wegraffte, so wird auch die Ankunft des Menschensohnes sein. Dann wird von zwei Männern, die auf dem Feld arbeiten, einer mitgenommen und einer zurückgelassen. Und von zwei Frauen, die an derselben Mühle mahlen, wird eine mitgenommen und eine zurückgelassen. Seid also wachsam! Denn ihr wisst nicht, an welchem Tag euer Herr kommt. Bedenkt dies: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde in der Nacht der Dieb kommt, würde er wach bleiben und nicht zulassen, dass man in sein Haus einbricht. Darum haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet. (Mt 24,37–44)

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Der Sehnsucht folgen (Lk 14,25–30)

Viele Menschen begleiteten ihn; da wandte er sich an sie und sagte: Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und hinter mir hergeht, der kann nicht mein Jünger sein. Denn wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und berechnet die Kosten, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen. (Lk 14,25–30)

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